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DIE ZUKUNFT DER EUROPÄISCHEN VERTEIDIGUNG

Update Mitte Jänner 2023


In Zeiten des Krieges in der Ukraine ist die Verteidigung Europas mit einem konkreten Engagement der EU und der NATO wieder zu einer Priorität geworden. Daher ist es notwendig, die Kooperationsprozesse zwischen den beiden Institutionen durch effizientere Mechanismen zu verbessern.

In der Vergangenheit hat die Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO eine ehrgeizige Phase durchlaufen, die ihren Ursprung in der sogenannten „Berlin+“-Vereinbarung hat.

Diese Vereinbarung stammt aus den frühen 2000er-Jahren. Im Großen und Ganzen legt sie einen Rahmen und die Bedingungen fest, unter denen vorab identifizierte Fähigkeiten und Mittel der NATO von der EU für Krisenbewältigungsoperationen unter ihrer Führung genutzt werden können. Das Abkommen regelt die Modalitäten der Konsultation zwischen den beiden Organisationen, den Austausch von Verschlusssachen, die Zusammenarbeit bei der Planung und die Verfahren für die Bereitstellung, Überwachung, Rückgabe sowie den Rückruf der bereitgestellten Mittel. Schließlich identifiziert es eine Reihe von Führungsoptionen, die dem - damals britischen und damit europäischen - Stellvertreter des SACEUR (Supreme Allied Commander in Europe), des Befehlshabers der Bündnisstreitkräfte in Europa, eine besondere - aber nicht ausschließliche - Rolle zuerkennen.

Diese Vereinbarung führte 2003 zur Übertragung der NATO-Operation in Mazedonien auf die EU. 2004 folgte die Operation in Bosnien. Seitdem wurden bei keiner der von der EU geführten Operationen NATO-Mittel eingesetzt. So traten zwischen 2004 und 2007 neun Länder aus Europa und Osteuropa der EU bei, die zuvor NATO-Mitglieder waren und grundsätzlich an der Vorherrschaft der Allianz festhielten. Obwohl diese Länder gelegentlich zu EU-Operationen beitrugen, insbesondere zu „Althea“ (als Nachfolgemission der von der NATO geführten Missionen IFOR und SFOR in Bosnien und Herzegowina seit 2004), bekämpften sie alles, was die NATO an ihren östlichen Grenzen schwächen könnte. Die Finanzkrise von 2008 hat die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik von den Prioritäten der EU verdrängt, zumal die unmittelbare Sicherheit des Kontinents nicht gefährdet schien.

Die Türkei bremste beim Beitritt Zyperns zur EU. Die Türkei lehnte den EU/NATO-Dialog in Anwesenheit Zyperns systematisch ab, da die Streitigkeiten zwischen den beiden Staaten dies blockierten. (Ebenso bremst die Türkei derzeit den NATO-Beitrittsprozess Schwedens und Finnlands, weil beide nordische Länder angeblich zu wenig gegen PKK-Vertreter in ihren Gesellschaften vorgehen würden.)

Darüber hinaus gab es einen Wettbewerb zwischen der EU und der NATO. Zum Beispiel, als beide Organisationen zwei verschiedene Operationen zur Unterstützung der Afrikanischen Union in Darfur 2005 durchführten. Aber auch, als die Allianz nach dem Start der EUNAVFOR-Operation „Atalanta“ im Jahr 2008 zur Bekämpfung der Seepiraterie im Golf von Aden und vor der Küste Somalias die Operation „Ocean Shield“ lancierte, um die gleichen Aufgaben im gleichen Meeresraum zu erfüllen.[1]

In Anbetracht der Schwierigkeiten zog sich die EU schließlich auf zivile Missionen zurück, militärische Missionen am unteren Ende des Spektrums erforderten keinen Rückgriff auf NATO-Mittel. Die NATO behielt ihrerseits die militärischen Missionen des oberen Spektrums bei, was dem Kontext, den Mitteln und den militärischen Ambitionen beider Seiten entsprach.

 

Die transatlantischen Beziehungen waren seit dem 11. September 2001 durch den Kampf gegen den Terrorismus geprägt, wobei sich die Ansätze weiterentwickelt haben. Heute stellt Washingtons Fokus auf den Indopazifik-Raum die Grundlagen insbesondere auf europäischer Seite in Frage, da die Europäer neue Verantwortlichkeiten übernehmen müssen.

Doch der russische Angriffskrieg gegen das unabhängige Nachbarland Ukraine hat die Karten völlig neu gemischt. (Dazu zählt auch der nicht unbedeutende Transfer westlicher Waffensysteme an die ukrainischen Streitkräfte in ihrem Abwehrkampf gegen Russland.)

 

In den letzten zwanzig Jahren ist der Kampf gegen den Terrorismus zu einem der wiederkehrenden Themen der Zusammenarbeit, wenn nicht sogar des Bündnisses zwischen Europa und den Vereinigten Staaten geworden. Als sich der Nordatlantikrat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zum ersten Mal in der Geschichte des Bündnisses auf Artikel 5 des Washingtoner Vertrags berief, sollte dies zwei Jahrzehnte einläuten, in denen die transatlantische Solidarität größtenteils an den Fortschritten im Bereich der Terrorismusbekämpfung gemessen werden sollte.

Die Bedeutung dieser Beziehung hat sich jedoch im Laufe der Zeit verändert und tendenziell umgekehrt.[2] Im ersten Jahrzehnt zielten die Bemühungen der Europäer vor allem darauf ab, die Forderungen der USA zu erfüllen und Solidarität zu demonstrieren - sei es durch die Zusammenarbeit im Bereich der Nachrichtendienste oder durch den europäischen Beitrag zu den großen amerikanischen Operationen im Rahmen des „Krieges gegen den Terror“ in Afghanistan und im Irak. Ab 2011 jedoch, als Amerika unter dem Einfluss des damaligen US-Präsidenten Barack Obama seinen Fokus nach Asien einleitete, waren es die Europäer, die angesichts der geografisch näher gerückten terroristischen Bedrohung sowohl in der Levante als auch in der Sahelzone zunehmend die Position einnahmen, amerikanische Hilfe anzufordern.

Diese Asymmetrie hat sich seit dem Fall des territorialen Kalifats der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) und der strategischen Neuausrichtung der USA auf den asiatisch-pazifischen Raum zum Zwecke eines strategischen Wettbewerbs mit China immer weiter verstärkt. Für Washington wurde der Kampf gegen den Terrorismus auf der Liste der Prioritäten für die nationale Sicherheit immer mehr zurückgestuft. Die Verbündeten in Europa und anderen Ländern können es sich nicht leisten, einer Bedrohung den Rücken zu kehren, die sich in ihrer Nachbarschaft und im Herzen ihrer Gesellschaft festgesetzt hat. Sie werden sich zunehmend allein den Dämonen des Dschihadismus stellen müssen, während sie gleichzeitig ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, die transatlantische Solidarität in einem anspruchsvolleren Bereich des Fähigkeitsspektrums - dem der hohen Intensität - zu gewährleisten.

Zum ersten Mal in der Weltgeschichte hat China im Zuge der russischen Invasion der Ukraine ab 24. Februar 2022 die europäische Bühne betreten. Es hat Russlands Forderung nach einem Ende der NATO-Ausdehnung nach Osteuropa als „legitim“eingestuft.[3]

Europa, das bis vor kurzem noch glaubte, überall auf der Welt, im Nahen Osten, in Afrika und in Asien eingreifen zu können, um zu versuchen, Krisen zu lösen, Konflikte zu schlichten, den Terrorismus zu bekämpfen, die Demokratie und die Achtung der Menschenrechte zu fördern, wird zum Schauplatz einer blutigen und immer wilderen Konfrontation, die von wohlmeinenden Drittmächten (von der Türkei über Israel bis hin zu China) beobachtet wird. Bis die USA aus Sorge vor einer Eskalation, die sie nicht unter Kontrolle haben, sich dazu entschließen, die Wogen zu glätten, wie sie es auf dem Balkan nach jahrelangem Krieg mit dem Dayton-Abkommen von 1995 getan hatten.

Auch inmitten des laufenden Ukraine-Krieges scheint die Rolle der EU zwischen einer von den USA beherrschter NATO und Russland trotz mancher verbaler Ankündigungen aus den EU-Zentralen eher begrenzt zu sein, meinen Kritiker. Mit der Rückkehr der westlichen Vormacht auf dem alten Kontinent dürften auch die geostrategischen und machtpolitischen Parameter der westlichen Verteidigungsstrukturen in Europa neu bestimmt werden. Tatsächlich spielt Washington zumindest in dieser Phase eines Stellvertreterkrieges in der Ukraine mit Russland eine bestimmende Rolle als einmal mehr wieder „europäische Macht“.


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U.S. European Command (USEUCOM) blickt seit 1952 auf eine lange und bewegte Geschichte zurück, in der es an mehr als 200 namentlich genannten Einsätzen teilgenommen hat, darunter unter anderem humanitäre Hilfe und Missionen bei Naturkatastrophen. Da alte Bedrohungen zu neuen Bedrohungen werden, stimmt USEUCOM seine Planungen weiterhin mit der nationalen Strategie ab und entwickelt Richtlinien, die bestehende und geplante Infrastrukturinvestitionen in ganz Europa nutzen, um die nach dem Ende des Kalten Krieges vorgenommenen Kürzungen rückgängig zu machen. Als Reaktion auf die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 haben USEUCOM und die europäischen Verbündeten ihr Engagement für Verteidigungsausgaben erhöht und ihre Streitkräfte und Präsenz neu ausgerichtet, um weitere russische Aggressionen abzuwehren.[4] Eine nationale Strategie, die durch einen kohärenten Infrastrukturplan untermauert wird, würde unbeabsichtigte Folgen historischer Pendelschwünge bei der Mittelausstattung abmildern.

Die Verabschiedung einer durchdachten Infrastrukturplanungsstrategie auf der Ebene des Einsatzgebietes soll die Ressourcen effizienter und flexibler gestalten, um die gewünschten Bedingungen für die Sicherung der euro-atlantischen Region zu erreichen, einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen, die glaubwürdige Abschreckung und Verteidigung der NATO zu unterstützen und die globale Machtprojektion der USA zu ermöglichen. Die Koordinierung und Synchronisierung des Infrastruktureinsatzplanes mit der EU-Planung/-Ressourcenausstattung bringt den Operationsplan des USEUCOM-Befehlshabers voran und verringert das Risiko einer unzureichenden Unterstützungsinfrastruktur in Krisenzeiten.

Die Geschichte von USEUCOM zeigt, dass es immer wieder zu Konflikten mit kongruenter Mittelausstattung kommt. Da die nationale Strategie weiterhin auf globale Bedrohungen abzielt und die Ressourcen ausbalanciert, muss die Infrastrukturplanung von USEUCOM durch alternative Mittel unterstützt werden, um die Auswirkungen einer Neuausrichtung der Ressourcen zu minimieren. Die realisierten Auswirkungen des Infrastruktureinsatzplanes gewährleisten eine kohärente Architektur, die dynamisch und flexibel genug ist, um den heutigen Anforderungen für den Kampf von morgen gerecht zu werden.


Am 28. September 2021 unterzeichneten Frankreich und Griechenland ein Militär- und Sicherheitsabkommen. In Paris brachten der französische Präsident Emmanuel Macron und der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis ein sogenanntes strategisches Kooperationsabkommen auf den Weg. Es beinhaltet den Verkauf von drei Kriegsschiffen an Athen.

Die Fregatten des Typs Belharra sollen in Frankreich hergestellt werden. Der Umfang des Vertrags kommt mit rund 5 Milliarden Euro nicht an denjenigen des geplatzten U-Boot-Geschäfts mit Australien heran, von dem sich die französische Industrie mindestens 8 Milliarden Euro erhoffte. Doch der Auftrag reihte sich an den Kauf von 24 Rafale-Kampfflugzeugen (12 davon gebraucht) seit Jahresbeginn 2021.

Es sei der Ausbau einer bereits bestehenden Allianz, so die beiden Staatschefs. Das Abkommen weise jedoch auch den Weg für eine militärisch und außenpolitisch unabhängigere EU.

Die Franzosen hätten Griechenland nicht nur bei den ausufernden Waldbränden, sondern auch im Sommer 2020 in sehr schwierigen Momenten unterstützt, betonte Mitsotakis.

Damals erreichten die Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei im östlichen Mittelmeer einen Höhepunkt. Ankara hatte Forschungsschiffe zur Erkundung von Rohstoffvorkommen in von Griechenland beanspruchte Gewässer geschickt. Paris eilte der griechischen Marine mit einer Fregatte zu Hilfe und verlegte vorübergehend zwei Kampfflugzeuge nach Zypern.

Macron erinnerte zudem daran, dass Griechenland in einer unruhigen Region an vorderster Front stehe, wo nicht nur griechische Interessen, sondern auch europäische und französische tangiert seien. Das Verhältnis zwischen Paris und Ankara ist seit längerem angespannt. Einerseits vertreten die beiden NATO-Partner unterschiedliche Interessen im Libyen-Konflikt. Andererseits hallen die harschen Worte Erdogans, die er nach der Enthauptung eines Lehrers in Frankreich 2020 an Macron richtete, immer noch nach.

Macron erklärte, dass auch ein verteidigungspolitisch eigenständigeres Europa weder eine Alternative zu anderen Allianzen sei noch ein Ersatz dafür. Die USA würden ein wichtiger Partner bleiben - aber einer, der sich mehr und mehr auf sich selbst konzentriere beziehungsweise sich Richtung China und Pazifik orientiere. Darauf müsse Europa reagieren.

Fast zeitgleich berieten der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin in Sotschi über den Verkauf von weiteren russischen Raketensystemen an Ankara.

Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine änderte sich die Gesamtlage dramatisch. Nicht nur die NATO, sondern auch die EU begann nunmehr in militärisch-rüstungstechnischen Kategorien zu denken. Am 21. März 2022 kamen die EU-Außen- und -Verteidigungsminister in Brüssel zu einem Treffen zusammen, um einmal mehr über die Folgen des Ukraine-Krieges zu beraten. Neben verstärkten Waffenlieferungen für die Ukraine gaben die Ministerinnen und Minister auch grünes Licht für den „strategischen Kompass“. Jene Militärstrategie, mit der sich die EU bei Sicherheit und Verteidigung neu aufstellen will - inklusive eigener militärischer EU-Eingreiftruppe. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von einem Wendepunkt in der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Der „Strategische Kompass“ sei „ein starkes Signal der Einheit und Entschlossenheit“ und komme nach zwei Jahren Arbeit „zu einem ganz wichtigen Zeitpunkt“. Nun brauche es nicht nur eine verbesserte Koordination zwischen den Mitgliedsstaaten, sondern auch höhere Verteidigungsausgaben. Die derzeitigen 1,5 Prozent des BIP seien nicht ausreichend, so Borrell.

Was die Eingreifgruppe betreffe, so handle es sich nicht um die Schaffung einer europäischen Armee, sondern um eine verbesserte Zusammenarbeit der nationalen Streitkräfte. Die Kriseninterventionstruppe soll bis 2025 einsatzfähig sein und bis zu 5.000 Soldatinnen und Soldaten aus den Mitgliedsländern umfassen. Zur neuen Truppe sollen laut Borrell je nach Bedarf neben Bodentruppen auch Luft- und Seestreitkräfte gehören. Die Soldaten müssten Borrells Worten zufolge jedenfalls „für Krisensituationen“ ausgerüstet und mobilisiert werden können. Dafür werde es auch gemeinsame Truppenübungen geben. All das verstehe sich jedoch nur als Ergänzung zur NATO, diese bleibe „sicherlich der Eckstein der territorialen Verteidigung Europas“, so Borrell.

Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) bezeichnete die Einsatztruppe als „militärisches Herzstück“ der neuen Militärstrategie.

So wird in der jüngsten Version des EU-Strategiepapiers deutlicher gemacht, dass sich die EU auch mit nuklearen Bedrohungen auseinandersetzen muss. Ein Satz, der die Zusammenarbeit mit Moskau in ausgewählten Themenbereichen ermöglichen sollte, wurde hingegen ersatzlos gestrichen. „Es ist nicht die Antwort auf den Ukraine-Krieg, aber Teil der Antwort“, sagte Borrell. Man müsse sich jetzt Gedanken über die europäische Fähigkeit machen, mit Herausforderungen wie mit einem Krieg umzugehen. Konkret hieß es in dem Dokument: „Das zunehmend feindselige Sicherheitsumfeld erfordert von uns einen Quantensprung nach vorne und die Steigerung unserer Handlungsfähigkeit und -bereitschaft.“ Und: Man sei entschlossen, die europäische Sicherheitsordnung zu verteidigen. Das impliziere neben der Eingreiftruppe etwa eine stärkere sicherheitspolitische Unterstützung der östlichen Nachbarländer sowie gemeinsame Beschaffungen von Verteidigungsfähigkeiten.

Auch Österreich schließe sich dieser Eingreiftruppe an - der Neutralitätsstatus sei hier nicht im Weg, so Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP). Dabei verwies sie auch auf die Teilnahme an den bisher nie eingesetzten Battlegroups. Angesichts dieser „herausfordernden Situation“ gelte es nun schneller zu werden und sich „robuster“ aufzustellen.


Die EU im Krisenmodus

Das Verhandlungstreffen am 29. März 2022 in Istanbul schien den Grundstein für eine mögliche Regelung zu legen, auch wenn die „Fortschritte“, die die russische Verhandlungsseite zu erkennen glaubte, unmittelbar nach dem Treffen vom Kreml-Sprecher dementiert wurden. Laut Russland und wie bereits zuvor von den russischen Behörden angekündigt, sollte die Regelung folgende Fragen behandeln: Neutralisierung der Ukraine, Status für die selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk, Anerkennung der Annexion der Krim und vor allem die „Entnazifizierung“ des Landes.

Zum ersten Mal hatte die ukrainische Seite diese Themen damals aufgegriffen und gleichzeitig die Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung Voraussetzung für jede Lösung war.

Wer wird die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine garantieren, sobald sie „neutralisiert“ ist?

Die unglückliche Erfahrung mit dem Budapester Memorandum von 1994, in dem Russland, die USA und das Vereinigte Königreich die territoriale Integrität der Ukraine als Gegenleistung für den Verzicht auf die von der Sowjetunion auf ukrainischem Gebiet stationierten Atomwaffen garantierten, veranlasste Präsident Selenskij, von den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats mit einem Mechanismus, der der automatischen Verpflichtung nach Artikel 5 der NATO nahe kam, weitaus solidere Garantien zu verlangen. Die Ukraine hatte sich jedoch bereit erklärt, über die Neutralisierung des Landes zu sprechen. Im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine schien nunmehr ein Neutralitätsstatus der Ukraine für die ukrainische Führung undenkbar bzw. in weite Ferne gerückt. Nach der Annexion ehemals ukrainischer und von russischen Truppen eroberter Regionen durch Moskau ließen auch die EU- und NATO-Staaten erkennen, dass sie einer solchen in Scheinreferenden zustandegekommenen Annexion dieser Gebiete niemals zustimmen würden.


Zum ersten Mal in der Weltgeschichte hat China die europäische Bühne betreten. Es hat Russlands Forderung nach einem Ende der NATO-Ausdehnung nach Osteuropa als „legitim“ eingestuft. Peking hatte direkt mit den USA über den Grad der wirtschaftlichen Unterstützung für Russland gesprochen. China wird den Grad der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit Russlands weitgehend bestimmen, es ist vielleicht das einzige Land, das zu gegebener Zeit in der Lage sein wird, einen mäßigenden Einfluss auf den Kreml auszuüben. Peking blieb in Bezug auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mehr als zurückhaltend und forderte die Einhaltung des internationalen Rechts.

Europa, das bis vor kurzem noch glaubte, überall auf der Welt, im Nahen Osten, in Afrika und in Asien eingreifen zu können, um zu versuchen, Krisen zu lösen, Konflikte zu schlichten, den Terrorismus zu bekämpfen, die Demokratie und die Achtung der Menschenrechte zu fördern, wird zum Schauplatz einer blutigen und immer wilderen Konfrontation, die von wohlmeinenden Drittmächten (von der Türkei über Israel bis hin zu China) beobachtet wird. Bis die USA aus Sorge vor einer Eskalation, die sie nicht unter Kontrolle haben, sich dazu entschließen, die Wogen zu glätten, wie sie es auf dem Balkan nach jahrelangem Krieg mit dem Dayton-Abkommen von 1995 getan hatten.

Frankreich hatte sich lange Zeit für ein Europa eingesetzt, das seine Rolle in einer zunehmend multipolaren Welt voll wahrnimmt. Die russische Aggression gegen die Ukraine drängt die EU brutal in eine geopolitisch unbedeutende Position zurück, aus der sie mit zunehmender Dauer des Konflikts in der Ukraine immer schwieriger herauskommen wird.

Nunmehr muss sich die EU verstärkt ihrer geopolitischen und geostrategischen Rolle in Europa bewusst werden. Durch die geopolitischen Verwerfungen im Rahmen des Ukraine-Krieges haben diese Aktivitäten, die bisher erst im Anlaufen waren, eine neue Dynamik erhalten.


Ein „Europa der Verteidigung“ - aus französischer Sicht

Frankreich hat ein starkes Bestreben, seine strategische Autonomie mit einer soliden industriellen und technologischen Verteidigungsbasis zu stärken, die durch kohärente Programme unterstützt wird. Die europäische Dimension ist eine der Fortschrittsachsen, die es ermöglicht, den Herausforderungen von morgen zu begegnen. Frankreich wird sich über die Generaldirektion für Rüstung (DGA) voll und ganz daran beteiligen.[5]

Seit 2017 erlebt das „Europa der Verteidigung“ mit dem Start von Initiativen wie der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit oder dem Europäischen Verteidigungsfonds einen deutlichen Aufschwung. Da der Europäische Rat gerade den Strategischen Kompass angenommen hat, müssen die europäischen Partner gemeinsam eine Reihe von Herausforderungen bewältigen, um ein Europa der Verteidigung aufzubauen, das an Stärke gewinnt, um eine widerstandsfähige europäische verteidigungstechnische/-industrielle Basis zu unterstützen - ohne dass Frankreich seine eigenen Herausforderungen und Interessen vernachlässigt. Für Europa ist es von entscheidender Bedeutung, seine strategische Autonomie zu schärfen, um seine Interessen in einem angespannten geopolitischen Umfeld zu verteidigen. Frankreich will dabei helfen, dieses Europa der Verteidigung aufzubauen, das den aktuellen Herausforderungen gewachsen ist - dies erfordert in erster Linie eine starke nationale Rüstungspolitik.

Die Verteidigungsindustrie ist ein unverzichtbares Instrument für die Behauptung der Souveränität Frankreichs, das sich seine Beurteilungs- und Handlungsfreiheit im militärischen Bereich bewahren will. Eine Armee, die nicht die volle Kontrolle über ihre Ausrüstung hat, verfügt zwangsläufig über einen geringeren Handlungsspielraum, weshalb es wichtig ist, über eine nationale Industrie zu verfügen. Die operative Autonomie der Streitkräfte, die für die Behauptung der Souveränität notwendig ist, ist in der Tat ohne beherrschte technologische und industrielle Ressourcen nicht erreichbar.[6]

Darüber hinaus stellt die Anpassung des strategischen Kompasses einen Meilenstein in der Geschichte der europäischen Verteidigung dar, das erste echte Weißbuch der europäischen Verteidigung. Es legt die europäischen Ambitionen für ein „Europa der Verteidigung“ bis zum Jahr 2030 fest. Dies trägt zur Förderung einer gemeinsamen strategischen Kultur bei und ermöglicht es, der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsagenda einen neuen Impuls zu geben - hin zu mehr strategischer Autonomie Europas, indem eine gemeinsame Vision des strategischen Umfelds geteilt wird. Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsagenda (ESVP) ist ein Instrument, mit dem die EU in die Lage versetzt werden soll, die Sicherheit des Kontinents und ihrer Bürger zu verteidigen, indem sie die Maßnahmen im Bereich Sicherheit und Verteidigung kohärenter gestaltet, neue Wege wie Mittel zur Verbesserung der eigenen kollektiven Fähigkeit zur Verteidigung entwickelt und Ziele und Meilensteine zur Messung der erzielten Fortschritte festlegt.

Die jüngsten Ereignisse haben die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Verwirklichung eines Europas der Verteidigung erneut unterstrichen.


„Deutsch-französischer Motor“ stottert immer mehr

Spätestens seit Beginn des Ukraine-Krieges gibt es viele Reibungsflächen und unterschiedliche außenpolitische Standpunkte zwischen Frankreich und Deutschland. Sie spielten nur deshalb eine untergeordnete Rolle, weil Washingtons Führungsrolle in Bezug auf den Ukraine-Krieg es Berlin und Paris ersparte, untereinander einig zu werden. Die großen Fragen werden weiterhin in Washington geklärt - Frankreich und Deutschland müssen nur noch über ihren Beitrag zur westlichen Strategie entscheiden. Doch hinter den Kulissen wurden wachsende Unstimmigkeiten immer deutlicher. Als der französische Präsident Emmanuel Macron im Mai 2022 den Aufbau einer „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ vorschlug, war das eine unilaterale Bestrebung, kein mit Deutschland abgestimmter Vorschlag. Berlin akzeptierte zwar die Idee, sprach aber am Ende lapidar von einer „Diskussionsplattform“.

Im Hintergrund wird der Konflikt zwischen Paris und Berlin über den künftigen Umgang mit Osteuropa immer sichtbarer. Deutschland ist weitaus mehr geneigt, neue Länder im Osten in die EU aufzunehmen, während Frankreich bei der Erweiterung auf die Bremse tritt. Vor allem, weil Paris Sorge hat, dass sich der Schwerpunkt der EU weiter nach Osten verlagert und damit Deutschland an Bedeutung gewinnt.

Hinzu kommen Konflikte im Bereich Energie. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat versucht, den Druck auf Frankreich zu erhöhen, eine Gaspipeline von Spanien nach Frankreich zu bauen. Der deutsche Kanzler hatte sich mit Spanien geeinigt - doch Macron hatte das Projekt dann endgültig schubladisiert, indem er sich mit Spanien und Portugal auf ein Alternativprojekt verständigte. Statt sich bilateral zu einigen, matchen sich Berlin und Paris immer erkennbarer auch auf offener Bühne. Und für das deutsche Abschalten der Kernkraftwerke fehlt in Frankreich jedes Verständnis.

Frankreich und Deutschland sind auch uneinig darüber, ob die 200 Milliarden Euro, mit denen die Bundesregierung die Folgen der hohen Energiepreise für Haushalte und Wirtschaft abfedern will, den Wettbewerb im Binnenmarkt verzerren. Und schließlich ist Frankreich nicht glücklich damit, dass Berlin das „Sondervermögen“ für die Bundeswehr dazu nutzt, auf dem Markt verfügbare Rüstungsgüter oft außereuropäischer Herkunft zu kaufen, statt auf langfristige Zusammenarbeit mit Frankreich zu setzen.

Dass der „deutsch-französische Motor“ nicht mehr richtig funktioniert, liegt jedoch nicht einfach nur am Fehlen der „Chemie“ zwischen Scholz und Macron.[7] (Zwischen Deutschland und Frankreich hat es in den zurückliegenden Jahrzehnten oft geknirscht. Doch gegenseitige Positionen wurden letztlich im Stillen „hinter den Kulissen“ ausgetragen. Das galt für Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, es galt für Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing, für Gerhard Schröder und Jacques Chirac, es galt für Angela Merkel im Verhältnis zu François Hollande und Emmanuel Macron.)

Heute haben die seit dem Ukraine-Krieg aufgebrochenen geopolitischen Verwerfungen am europäischen Kontinent die Bruchlinien zwischen Deutschland und Frankreich stärker hervortreten lassen, die früher durch „mediale Freundschaftsbekundungen“ unter den Teppich gekehrt werden konnten. Frankreichs Antwort auf die wachsenden globalen Spannungen lautet: Streben nach Autonomie, Ausbau der EU zum eigenständigen Machtblock mit einer französischen Führungsrolle. Deutschland hingegen setzt weiterhin auf das transatlantische Bündnis und auf globale Offenheit.

Für Macron waren der Austritt Großbritannien aus der EU die Chance, seine Vision einer „souveränen“ Union voranzubringen. Doch Deutschland war bei allem Zögern nicht ernsthaft bereit, auf diesen Zug aufzuspringen. Mit der russischen Invasion in der Ukraine zeigte sich, dass es auf lange Zeit keine realistische Alternative zur geopolitischen Konstellation des Westens geben würde, in der - zum Leidwesen Frankreichs - Deutschland wieder eine deutlich gewichtigere Rolle spielen dürfte als bisher.

Dennoch bleibt für Macron die Souveränität Europas unter französischer Führung das Ziel französischer Außenpolitik. Die alte deutsch-französische Freundschaft nach dem Zweiten Weltkrieg dürfte so nicht mehr zurückkommen. Sie beruhte im Kern darauf, dass beide Seiten im Schatten amerikanischer Vormacht geopolitische Fragen ausklammern konnten.[8]


Es wird sich erst zeigen, wie tiefgehend die geopolitisch-militärisch-ökonomischen und sozialen Verwerfungen infolge des Ukraine-Krieges den europäischen Kontinent in seiner derzeitigen Ausgestaltung im Kern treffen und auch wahrscheinlich auch längerfristig verändern werden. Eines scheint jedenfalls bereits erkennbar zu sein: Ein Zurück zu alten Pfaden dürfte nicht mehr möglich sein.


Abgeschlossen: Mitte Jänner 2023


Anmerkungen:

[1] Hervé Rameau / Pascal Roux, „DÉFENSE DE L’EUROPE ET EUROPE DE LA DÉFENSE“ (2/2). In: Revue Défense Nationale 5/2022, S. 90-97.

[2] Élie Tenenbaum, „CONTRE-TERRORISME ET RELATIONS TRANSATLANTIQUES: UNE VALSE À CONTRETEMPS“. In: Revue Défense Nationale 1/2022, S. 26-33.

[3] Jean de Gliniasty, „L’EUROPE VICTIME COLLATÉRALE DE L’INVASION DE L’UKRAINE PAR LA RUSSIE?“. In: Revue Défense Nationale 5/2022, S. 14-20.

[4] Jon-Paul Depreo / Scott P. Raymond, „U.S. EUROPEAN COMMAND THEATER INFRASTUCTURE PLAN“. In: Joint Forces Quarterly – JFQ 2/2022, S. 69-74.

[5] Siehe dazu: Joël Barre, „L’EUROPE DE L’ARMEMENT: ENJEUX TECHNOLOGIQUES ET INDUSTRIELS POUR LA FRANCE ET CONDITION DE L’AFFIRMATION GÉOSTRATÉGIQUE DE L’UE“. In: Revue Défense Nationale 6/2022, S. 64-72.

[6] Vgl. Éric Béranger, „MAÎTRISER LES EFFETS EN MAÎTRISANT LES TECHNOLOGIES: ENJEUX DE L’AUTONOMIE STRATÉGIQUE EN EUROPE“. In: Revue Défense Nationale 6/2022, S. 57-63.

[7] Das deutsch-französische Verhältnis ist auf dem Tiefpunkt. In: BlueNews-Online v. 20.10.2022: https://www.bluewin.ch/de/news/international/das-deutsch-franzoesische-verhaeltnis-ist-auf-dem-tiefpunkt-1427288.html

[8] Der „EU-Motor“ stottert: Redebedarf zwischen Deutschland und Frankreich. In: DIE PRESSE-Online v. 27.10.2022: https://www.diepresse.com/6208026/der-eu-motor-stottert-redebedarf-zwischen-deutschland-und-frankreich

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DIE ZUKUNFT DER EUROPÄISCHEN VERTEIDIGUNG – EINE LAUFENDE DEBATTE

Fortsetzung


Deutsch-französischer Motor als Nukleus einer „neuen Ostpolitik“?

Der strategische Dialog mit Russland ist nicht einfach, aber er bleibt notwendig - notwendig  auch wenn der französische und der deutsche Ansatz nicht völlig übereinstimmen. Paris und Berlin müssen jedoch ihre Bemühungen fortsetzen, Europa voranzubringen und mit Moskau zu diskutieren. Besteht also wieder Bedarf an einer erneuerten Ostpolitik? In Deutschland argumentieren einige Politikerinnen und Politiker in diese Richtung, wie der ehemalige SPD-Politiker Matthias Platzeck in seinem 2020 veröffentlichten Buch. Es gibt jedoch viele, die den Aufruf des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu einem strategischen Dialog mit Russland kritisieren. Die Debatte ist offen.

Im November 2020 organisierten die Universität Bonn und das Institut français einen Runden Tisch zu diesem Thema: „Brauchen wir eine Ostpolitik 2.0? Visionen aus Deutschland und Frankreich“. „Das Konzept der Ostpolitik ist deutsch“, so der Tenor der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem Runden Tisch. Aufgrund ihrer geografischen Lage standen die Deutschen im Laufe der Geschichte immer wieder in Kontakt mit der slawischen Welt. Mehr als ein Jahrhundert lang teilten sie eine gemeinsame Grenze mit den Russen. Nach der letzten Teilung Polens im Jahr 1795 wurden Preußen, das 1871 zum Deutschen Reich wurde, und die habsburgischen Besitzungen, die 1804 zum Habsburgerreich gehörten, zu Russlands Nachbarn. Dies dauerte bis 1918. Nach dem Zweiten Weltkrieg fungierten die Russen in Deutschland selbst als Besatzer und dann als Wächter der Deutschen Demokratischen Republik.

Man kann argumentieren, dass die Deutschen ständig eine „De-facto-Ostpolitik“ betrieben haben, ohne dass sie formalisiert wurde. Schon im Mittelalter gerieten sie mit den Russen aneinander - aneinander  zum Beispiel in der Schlacht am Peipussee im Jahr 1242, in der Alexander Newski die Deutschordensritter besiegte.

Es sei darauf hingewiesen, dass zur Zeit des Kalten Krieges, als die Unterschiede noch größer waren als heute , und in der Sowjetunion ein totalitäres Regime herrschte, der Dialog zu der Schlusserklärung von Helsinki im Jahr 1975 führte, die zum Abbau der Spannungen beitrug - beitrug  aber ein anderes, damals unerwartetes Ergebnis hatte. Kommentatoren schätzten dies als Erfolg für den Ostblock ein, indem sie die ersten beiden „Körbe“ zum Status quo in Europa und zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit bewerteten und den dritten „Korb“ zu den Menschenrechten als unbedeutend einstuften. Es war jedoch dieser „Korb“, der die größte Wirkung im sowjetischen Raum hatte und zum Untergang des Sowjetimperiums beitrug.

Der heutige strategische Dialog mit Russland als direkter Nachfolgestaat der untergegangenen UdSSR kann auch dazu beitragen, bei einem Teil der dortigen Jugend und der Medien eine „Sehnsucht nach Europa“ zu wecken - wecken  eine „Sehnsucht“, die zu weiteren unerwarteten positiven Entwicklungen führen könne, halten so manche Experten fest.[1]


Wie steht es um die Kooperation auf dem Gebiet der europäischen Verteidigung? 

Seit 2016 gibt es eine Vielzahl von Initiativen zur Verteidigungszusammenarbeit: darunter eine umfassende außen- und sicherheitspolitische Strategie, eine militärische Planungs- und Durchführungskapazität für Operationen mit einem nicht-exekutiven Mandat, die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation - Cooperation  PESCO), die Europäische Interventionsinitiative, ein Europäischer Verteidigungsfonds und die Generaldirektion für Verteidigung und Raumfahrt der EU-Kommission (Generaldirektion Verteidigungsindustrie und Weltraum - Weltraum  DEFIS). Diese Instrumente, die zusammen auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und der strategischen Autonomie der EU abzielen, zeigen, dass die Verteidigung in den letzten fünf Jahren nicht nur in den Mitgliedsstaaten, sondern auch in Brüssel ein vorrangiges Thema war und weiter ist. Dieser Fortschritt sollte jedoch nicht als selbstverständlich angesehen werden. Im Gegenteil, der Erfolg der kürzlich eingeführten Instrumente hängt weitgehend von dem vom politischen und wirtschaftlichen Kontext ab, in dem sie in den kommenden Jahren wirken werden.[2]

Obwohl die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich seit 2016 auf den Agenden der Regierungen nach oben gerückt ist, zeigt die Covid-19-Pandemie - Pandemie  und die dadurch ausgelöste Wirtschaftskrise - Wirtschaftskrise  deutlich, dass der Stellenwert von Verteidigungsfragen auf der europäischen Agenda fragil ist. Die Gesundheitskrise, die dabei ist, sich in eine Rezession von einem Ausmaß zu verwandeln, wie es sie seit der Großen Depression nicht mehr gegeben hat, droht dieser Dynamik ein Ende zu setzen, indem sie die Verteidigung zu einer „Anpassungsvariable“ macht. Die ersten Folgen der Pandemie in Bezug auf die politischen Prioritäten sind bereits sichtbar: Seit Anfang März 2020 war und ist es die Priorität der europäischen Regierungen, die Pandemie einzudämmen bzw. zu managen; dicht gefolgt von massiven staatlichen Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft. Mehr Aufmerksamkeit für Gesundheit und Wirtschaft bedeutet jedoch weniger Aufmerksamkeit für andere Themen, wie zum Beispiel die Verteidigung/Rüstung - Rüstung  auch aus haushaltspolitischer Sicht. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Covid-19-Pandemie Auswirkungen auf die Fähigkeit der Staaten haben wird, die europäischen Verteidigungsambitionen zu erfüllen.

Das noch nicht absehbare Ausmaß der Covid-19-Pandemie könnte durchaus dazu führen, den jüngsten Fortschritten auf dem Gebiet der Verteidigungszusammenarbeit ein Ende zu setzen. Allerdings kann die Pandemie auch eine Chance sein, insbesondere wenn die für die nationale Sicherheit zuständigen Akteure in den EU-Mitgliedsstaaten Mitgliedstaaten die Gelegenheit nutzen, auf bi-, mini- oder multilateraler Ebene enger zusammenzuarbeiten - zusammenzuarbeiten  sei es in Sicherheits- oder Verteidigungsfragen.


Das Panorama der Verteidigungsindustrie in Europa ist komplex - komplex  mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen und Ambitionen, insbesondere in Bezug auf die Beziehung zu den USA.[3] Es gibt viele Asymmetrien, was es schwierig macht, von beschwörender Rhetorik über strategische Autonomie zu konkretem Handeln überzugehen, um sie zu erreichen.[4]

Die Intensität der Verhandlungen über die Anteile und förderfähigen Einrichtungen, die Vergabekriterien und die Modalitäten für die Finanzierung von Projekten im Rahmen des künftigen Europäischen Verteidigungsfonds spiegeln die asymmetrische Situation der EU-Mitgliedsstaaten Mitgliedstaaten im Bereich der Rüstungsentwicklung und -produktion wider. Während der in offiziellen Reden und Texten häufig verwendete Begriff „europäische verteidigungsindustrielle und -technologische Basis“ ein kohärentes Ganzes suggeriert, das aus der Konvergenz von Zielen und gemeinsamen Anstrengungen resultiert, sieht die Realität ganz anders aus und ist durch die „roten Linien nationalstaatlicher Souveränitäten“ erkennbar.[5] In Großbritannien sind Unternehmen aller Größenordnungen auf dem Verteidigungsmarkt in der EU-27 tätig. Die Technologien und Produkte, die diese Unternehmen auf dem Markt behaupten können, sind offenbar größtenteils auf die Unterstützung des Staates zurückzuführen (Beschaffungspolitik für Rüstungsgüter, Industriepolitik, Finanzierung von Forschung und Entwicklung sowie Förderung von Qualifikationen und Festigung ihrer Wettbewerbspositionen). Infolgedessen werden die unterschiedlichen Ambitionen der Mitgliedsstaaten Mitgliedstaaten hinsichtlich der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit bei der Entwicklung, Herstellung, Instandhaltung in betriebsbereitem Zustand und dem Einsatz von Ausrüstung für die Streitkräfte, einen tiefgreifenden Einfluss auf die europäische Verteidigungsindustrielandschaft haben und ihre Konturen im Laufe der Zeit (neu) formen.[6]

Seit vielen Jahren sind offizielle Diskussionen und Berichte vom Begriff der Autonomie durchdrungen. Die Herausforderung besteht heute darin, von dieser rein beschwörenden Haltung wegzukommen, indem man die praktischen Bedingungen hinterfragt, die es ermöglichen, diese Autonomie zu erreichen. Die derzeitige Gesundheitskrise sollte, indem sie ein grelles Licht auf die sehr konkreten Folgen einer übermäßigen Abhängigkeit von Lieferanten aus Drittländern wirft, eine Gelegenheit bieten, diese operativen Überlegungen zu beschleunigen. Ohne diese Überlegungen würden die auf EU-Ebene eingeleiteten Initiativen für die Verteidigungsindustrie wirkungslos.

Die Einrichtung eines Europäischen Verteidigungsfonds und vor allem die Schaffung einer Generaldirektion für Verteidigungsindustrie und Raumfahrt innerhalb der neuen EU-Kommission werfen die Frage auf, wie die Konturen einer koordinierten Strategie im Rüstungssektor auf Ebene der EU aussehen könnten.[7] Diese Frage, die weitgehend theoretisch geblieben ist, kehrt nun mit Nachdruck zurück, da Europa und die Welt in einer noch nie dagewesenen Wirtschaftskrise versinken. Diese Rezession stellt eine Bedrohung für die europäische Verteidigungsindustrie dar, da in den letzten drei Jahrzehnten in Europa die Militärausgaben oft die „Anpassungsvariable für öffentliche Haushaltsdefizite“ waren.[8] In einer Zeit, in der die Bedrohungen zunehmen, die mit der Vervielfachung der Spannungen in der östlichen und südlichen Nachbarschaft Europas, dem Aufstieg Chinas zur Großmacht und dem weltweiten Wettrüsten zusammenhängen, wo noch dazu die USA in der Ära von Präsident Donald Trump gedroht haben, sich aus der NATO zurückzuziehen, würde eine solche Entwicklung die Verwundbarkeit der Europäer und ihre Abhängigkeit von der Außenwelt erhöhen.[9]

Vor diesem Hintergrund dieser komplexen Verwerfungen scheint die neue EU-Kommission die Herausforderungen einer kohärenten Strategie des europäischen Rüstungsbereichs erkannt zu haben. Deshalb ist es nach Meinung von Experten unerlässlich und heilsam, die Verteidigung in eine integrative europäische Industriestrategie einzubeziehen.[10]

Schließlich ist eine weitere Konsolidierung der Nachfrage die einzige Möglichkeit, das Angebot auf europäischer Ebene aufrecht zu erhalten. Große transnationale Programme für die Entwicklung und den Erwerb neuer Kapazitäten müssen daher gefördert und vor zukünftigen Budgetkürzungen geschützt werden.[11]

Die militärtechnologische Basis der europäischen Rüstungsindustrie muss eine Chance sein, die es zu nutzen gilt, zumal sich der technologische Wettbewerb verschärft. Die europäischen Instrumente sind vorhanden, um Innovationen zu fördern und die Verteidigungsindustrie zu modernisieren - modernisieren  vorausgesetzt, es besteht ein echter Ehrgeiz, den Interessen Europas zu dienen.

Die aktuelle Gesundheitskrise ist eine große Herausforderung für die europäischen Staaten in wirtschaftlicher, industrieller und verteidigungspolitischer Hinsicht. Noch herrscht allgemeine Unsicherheit darüber, ob sich die europäischen Akteure auf dem Weg aus der Krise einigen und Zusammenhalt zeigen können.

Während Widrigkeiten verheerend sein können, stellen sie auch eine enorme Chance dar.[12]


Großbritannien bleibt auch nach dem Brexit

wichtige

wichtiger Partner der EU im Rüstungsbereich

Trotz Brexit bleiben Großbritannien und die EU wichtige Partner im Bereich der Verteidigung und der Rüstungsindustrie. Die „amerikanische Versuchung“ würde de facto zu einer Schwächung der britischen Souveränität führen. Daher sei die weitere Kooperation mit dem europäischen Kontinent im Rüstungsbereich ein Akt der Vernunft, ist hinter den Kulissen von Diplomaten zu hören.

Am Abend des Brexit-Referendums im Juni 2016, das den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU ankündigte, waren einige Menschen begeistert. Endlich würden die Briten aufhören, den Start der europäischen Verteidigung auf ewig zu blockieren! Es stimmt, dass die Europäische Verteidigungsagentur seit ihrer Gründung in ihrer föderalen Rolle blockiert ist, weil das britische Veto jede Erhöhung ihres Budgets verhindert hat. In ähnlicher Weise war Großbritannien immer der Vorbote einer europäischen Verteidigung, die ausschließlich von der NATO unterstützt wird und jede Autonomie der EU zu behindern versucht.

Doch ist es zu begrüßen, dass das Vereinigte Königreich wieder zu einer „Insel“ vor der Küste Europas wird? Außerdem: Ist es für die Europäer vernünftig, sich ihre Verteidigung ohne die Briten vorzustellen - vorzustellen  und umgekehrt?

Die Europäer teilen mehr von der gemeinsamen europäischen Verteidigung und internationalen Sicherheit miteinander, als viele Menschen auf beiden Seiten des Kanals glauben.[13] Die Beziehungen sind komplex, wechselhaft und manchmal konfliktreich, aber wirtschaftlicher Realismus führt das Vereinigte Königreich und Kontinentaleuropa dazu, sich auf die wesentlichen Fähigkeiten der gemeinsamen Verteidigung zu einigen.

Ökonomischer Realismus verbindet sich mit der Erfüllung der kapazitären Bedürfnisse, um das britische Volk aufzufordern, ein wichtiger Partner der Länder Kontinentaleuropas zu bleiben - bleiben  und umgekehrt. Die Effektivität der gemeinsamen Strategie im Rüstungssektor ist der einzige Weg, um dies zu verstehen, zumal künftige große Beschaffungsprojekte eine „Einstiegskompetenz“ erfordern werden, die wesentlich höher sein werden als die derzeit in den Streitkräften eingesetzten Technologien. So werden die Beschaffungskosten für das zukünftige Luftkampfsystem mit Sicherheit mindestens doppelt so hoch sein wie die der vorherigen Generation (Eurofighter Typhoon und Rafale). Dies macht es für die Europäer unerlässlich, ihre Investitionen zu bündeln, um sicherzustellen, dass sie eine solch kritische Fähigkeit mit dem gewünschten Grad an strategischer Autonomie kontrollieren können.[14]


Afghanistan-Debakel des Westens – Ein neuer Schub für eine engere europäische Verteidigung?

Nach dem überhasteten Abzug der USA und der NATO aus Afghanistan und dem Mitte August 2021 großteils kampflos an die radikal-islamischen Taliban gefallenen Land offenbart sich das ganze Ausmaß des „militärisch-politisch-strategischen Desasters“ des Westens. Auch wenn sein Amtsvorgänger Donald Trump den schrittweisen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan angeordnet hatte, so könne nach Meinung vieler politischer Kommentatoren und Experten die jetzige US-Administration von Präsident Joe Biden nicht aus der Schuld und Verantwortung für das hinterlassene Chaos in der Region genommen werden.

Die europäischen Verbündeten sehen einmal mehr, dass die zwanzig Jahre ihrer militärischen Präsenz und ihrer Aufbauarbeit am Hindukusch „verlorene Jahre“ gewesen sind. Die Nicht-Bereitschaft der Armee und Polizei der afghanischen Zentralregierung ohne Hilfe westlicher Truppen gegen die Islamisten zu kämpfen, komplettierte das Debakel des westlichen Strategieansatzes.

Vor diesem Hintergrund scheinen diese Ereignisse die Meinungen in den europäischen Hauptstädten zu mehren, die nunmehr wirklich einsehen, dass es angesichts dessen höchste Zeit sei, die Weichen in forcierte europäische Verteidigungskapazitäten zu stecken. Ob dies nur Lippenbekenntnisse sind oder nicht, bleibt abzuwarten.


Abgeschlossen: Anfang September 2021


Anmerkungen:

[1] Cyrille Schott, „UNE OSTPOLITIK RENOUVELÉE? VISIONS DEPUIS L’ALLEMAGNE ET LA FRANCE“. In: Revue Défense Nationale 5/2021, S. 70-77.

[2] Vgl: . Friederike Richter, „LA COOPÉRATION DE DÉFENSE EN EUROPE, UN ENJEU PRIORITAIRE?“ In: Revue Défense Nationale 7-9/2020, S. 115-119.

[3] Vgl: . Eckhard Lübkemeier, „EUROPA SCHAFFEN MIT EIGENEN WAFFEN? Chancen und Risiken europäischer Selbstverteidigung“. In: SWP-Studie 17/2020, S. 1-39.

[4] Josselin Droff / Julien Malizard, „MENACES, BIENS PUBLICS ET DEMANDE DE DÉFENSE EUROPÉENNE“. In: Revue Défense Nationale 3/2020, S. 95-100.

[5] Siehe: dazu: Hélène Masson, „QUELLE INDUSTRIE DE DÉFENSE POUR QUELLE EUROPE? In: Revue Défense Nationale 7-9/2020, S. 61-66.

[6] Vgl. dazu: Comité 4 – Autorenkollektiv, „LES COOPÉRATIONS D’ARMEMENT À L’HEURE DE L’AUTONOMIE STRATÉGIQUE EUROPÉENNE“. In: Revue Défense Nationale 1/2021, S. 33-38.

[7] Caterina Tani, „EU PROGRESS IN DEFENCE AND SPACE“. In: Military Technology – MT 6/2020, S. 52-54.

[8] Lucie Béraud-Sudreau, „DÉPENSES MILITAIRES EN EUROPE DANS LES ANNÉES 2010 ET LEÇONS POUR L’ÉRE POST-COVID 19“. In: Revue Défense Nationale 7-9/2020, S. 21-26.

[9] Dazu etwa: Michael Kimmage, „EIN REAKTIONÄRER WESTEN? Präsident Trump und die Abkehr von der Aufklärung“. In: Merkur 5/2020, S. 39-48.

[10] Sylvie Martelly / Édouard Simon, „POUR UNE STRATÉGIE INDUSTRIELLE EUROPÉENNE DE DÉFENSE“. In: Revue Défense Nationale 7-9/2020, S. 67-72.

[11] Vgl: . Patrick Bellouard / Jean-Paul Perruche / Patrice Mompeyssin / Nathalie de Kaniv, „TRENTE ANS APRÈS LA CHUTE DU MUR DE BERLIN: OÙ EN EST LA DÉFENSE DE L’EUROPE?“. In: Revue Défense Nationale 5/2020, S. 39-46.

[12] Comité 3 – Autorenkollektiv, „LA BASE INDUSTRIELLE ET TECHNOLOGIQUE DE DÉFENSE EUROPÉENNE, UNE OPPORTUNITÉ HISTORIQUE“. In: Revue Défense Nationale 1/2021, S. 26-32.

[13] Renaud Bellais, „ROYAUME-UNI ET UNION EUROPÉENNE, UN MARIAGE DE RAISON DANS L’ARMEMENT“. In: Revue Défense Nationale 7-9/2020, S. 73-78.

[14] Vgl. dazu: Jean-Baptiste Blandenet, „PLAIDOYER POUR UNE CULTURE STRATÉGIQUE EUROPÉENNE“. In: Revue Défense Nationale 1/2021, S. 82-87.

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Weiterführende LINKS:

Reflexionspapier über die Zukunft der europäischen Verteidigung

European Security & Defence: News

European defence | Chatham House

Europe and NATO| Defense News

European Defense Report - Munich Security Conference

The Case for EU Defense - Center for American Progress

European defence: Challenges ahead | IRIS

European Defence Network – European awareness

European Defense Community | Britannica

The failure of the European Defence Community (EDC)

EU Security and Defense Challenges: Toward a European Defense Winter?

Old allies, new ways: Reappraising European defense

European Defense Integration | Center for Strategic and International Studies

Four steps towards a European Defence Union – CEPS

The governance of the European Defence Fund

Is Europe Really Ready for Its Own Defense Force?

Their Own Army? Making European Defense Work

European Defence in the Post-COVID World

European defence / NATO Archives - Egmont Institute

What perspectives for the European Defense Policy?

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DIE ZUKUNFT DER EUROPÄISCHEN VERTEIDIGUNG – EINE LAUFENDE DEBATTE


Nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und des Falles der Berliner Mauer ist es angemessen zu fragen, welchen Platz Europa in der Welt einnimmt und wie seine Verteidigungsinstitutionen funktionieren. Obwohl die NATO der wichtigste Sicherheitsdienstleister ist, ist es dringend erforderlich, ihre Beziehungen zur EU zu überprüfen, damit die EU als politische Macht agieren kann.

Bei einer Konferenz, die am 8. November 2019 im Palais du Luxembourg in Paris in Partnerschaft unter anderem mit dem Senatsausschuss für Auswärtige Angelegenheiten, dem französischen Verteidigungsministerium und der Schuman-Stiftung organisiert wurde, wurden drei Fragen gestellt: Eine Welt ohne Europa? Ein wehrloses Europa? Ein Europa ohne Zukunft?

Spielt Europa in einer globalisierten und sich rasch verändernden Welt immer noch eine bedeutende Rolle, oder sollten wir bedenken, dass die Präsenz Europas auf der internationalen Bühne vernachlässigbar geworden ist? Wenn Europa seinen Einfluss aufrechterhalten will, kann es dies tun, ohne seine eigene Verteidigung und Sicherheit zu gewährleisten? Ist es möglich, eine europäische Zukunft ohne echte strategische Autonomie aufzubauen?

Eine Gruppe von Experten, hochrangigen Militäroffizieren, Diplomaten und politischen Persönlichkeiten, die von der Notwendigkeit Europas überzeugt, aber realpolitisch in Bezug auf Europas Integrationsbemühungen denken, hat sich mit all diesen Fragen befasst. Ihre Erfahrung innerhalb der europäischen Institutionen oder in militärischen bzw. diplomatischen Strukturen ermöglichte es, eine umfassende und klare Analyse dieser Fragen vorzunehmen.

Was stellt Europa heute, dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges, in der Welt dar? Ist der Platz Europas in der Welt des 21. Jahrhunderts zu einem Anhang geworden? Die EU hat es sich zur Aufgabe gemacht, jene Länder zu integrieren, die auf der „falschen Seite“ des Eisernen Vorhangs standen, und die sich, nachdem sie zutiefst europäisch geblieben waren, „verraten“ fühlten. Diese Einigung Europas ging Hand in Hand mit einer beantragten Erweiterung der amerikanischen Sicherheitsgarantie und damit der Erweiterung der NATO.

Die Beziehungen zu Russland sind wichtig. Die Europäer dürfen sich aber von Moskau politisch-ökonomisch und militärisch nicht entzweien bzw. über den Tisch ziehen lassen. Deshalb braucht es auch eine starke NATO in enger Kooperation mit der EU.

Wiederkehr der Präsenz westlicher Flugzeugträger im euro-atlantischen Raum

Die Wiederkehr der Präsenz westlicher Flugzeugträger im euro-atlantischen Raum im Rahmen der NATO erhöht beispielsweise die operativen Kapazitäten und die Flexibilität gegenüber etwaigen Bedrohungen der Sicherheit durch Russland. Die strategischen und operativen Interessen der USA in einer Region manifestieren sich häufig in der Präsenz eines nuklearbetriebenen Flugzeugträgers der Nimitz-Klasse. Da die USA sich zunehmend auf den indisch-pazifischen Raum konzentrieren, ist die Präsenz von Flugzeugträgern der US-Navy bis zum Ausbruch der Ukraine-Krise in der euro-atlantischen Region eher selten geworden.

Nunmehr hat sich die operative Lage deutlich verändert. Der russische Flugzeugträger „Admiral Kuznezow“ befindet sich derzeit in einer umfangreichen Umrüstungs- und Modernisierungsphase. Russland ringt mit der Frage, wie, wann und ob es seine eigene Flugzeugträgerfähigkeit wiederherstellen soll. Es gibt jetzt auch drei regelmäßig im euro-atlantischen Raum operierende Flugzeugträger europäischer Staaten. Das sind die beiden Flugzeugträger der Royal Navy (die HMS Queen Elizabeth und die HMS Prince of Wales) sowie der französische Flugzeugträger Charles de Gaulle.

Für die US-Navy, die im Nordatlantik Präsenz zeigt, war und ist es vor allem die Trägergruppe der USS Harry S. Truman, die unter dem Kommando der US Second Fleet für hohe Einsatzbereitschaft sorgt. Im April 2020 war die Truman-Trägergruppe im Mittelmeerraum aktiv. Im April 2019 führte etwa die USS John Stennis mit der französischen Trägergruppe Charles de Gaulle kombinierte Operationen im Roten Meer durch. Generell lancieren die Flugzeugträger der europäischen Verbündeten intensive gemeinsame Manöver mit der US-Navy - auch im Rahmen von gemischten Verbänden der Marineflieger. [1]

Ob die französische Marine künftig noch einen zweiten Flugzeugträger erhalten wird, bleibt nicht zuletzt aus Kostengründen unklar.

Der seit 2009 in Dienst stehende kleine Mehrzweckflugzeugträger der italienischen Marine, die „Cavour“, hat den in die Jahre gekommenen Hubschrauberträger „Vittorio Veneto“ ersetzt und soll den bisher einzigen Träger „Giuseppe Garibaldi“ noch bis ca. 2025 unterstützen.

Die spanische Marine hat das Mehrzweckkriegsschiff „Juan Carlos I.“ sowohl in der Rolle eines kleineren Flugzeugträgers als auch eines amphibischen Angriffsschiffs seit 2010 im Einsatz.    

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es auch in schwierigen Zeiten im Rahmen der Bewältigung der Corona-Pandemie jetzt eines globalen und kollektiven Ansatzes der europäischen Länder für die Sicherheit in Europa bedürfe. Neben der unverzichtbaren Konkretisierung der bereits eingeleiteten Maßnahmen ist es besonders wichtig, die Komplementarität zwischen NATO und EU weiter zu vertiefen. [2]

Zukunft der nuklearen Abschreckung für Europa

Insbesondere das wiedervereinigte Deutschland versucht sich als „Macht des Ausgleichs und des Friedens“ sowie als Mediator in diversen Konflikten zu präsentieren. Dementsprechend werden die heute auf deutschem Territorium nach wie vor lagernden Bestände an US-Atomwaffen mehr oder weniger als „politische Waffen“, als ultimative Werkzeuge militärischer Abschreckung, verstanden. Auch wenn es so manche deutsche Politikerinnen und Politiker gibt, die diese nuklearen Arsenale am liebsten „wegwünschen“ würden, ist und bleibt die Berliner Republik im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ in die atomare Strategie der Abschreckung des westlichen Verteidigungsbündnisses NATO involviert. Unter anderem könnten im absoluten Ernstfall bei einem militärischen Konflikt mit Russland deutsche Tornado-Kampfflugzeuge diese Atomwaffen auf gegnerische Angriffslinien abschießen - eine auch heute mehr als befremdliche „Eventualität“ für die politischen Eliten im deutschen Reichstag. [3]

Die Tornado-Jets gelten mittlerweile als veraltet und müssen durch neue, moderne ersetzt werden. Offen bleibt, ob Berlin künftig dazu bereit ist, neue Kampfflugzeuge wie zuvor im Kalten Krieg mit diesen Atomwaffen als „letztes Abschreckungsmittel“ zu bestücken. Wenn nicht, dann würde Deutschland dennoch in der Nuklearen Planungsgruppe der NATO eingebunden bleiben. Damit könne sich Berlin nicht „aus der Verantwortung“ über die künftige atomare Abschreckungsstrategie heraushalten, wird von Expertenseite immer wieder betont.

Angesichts der Unwägbarkeiten der vorangegangen US-Administration von Präsident Donald Trump über das militärische Engagement der USA im Ernstfall in Europa hat sich Frankreich bereits als nach dem Brexit einzige Nuklearmacht in der EU angeboten, den französischen Atomabschreckungsschirm über den Kontinent auszubreiten. Die französischen nuklearen Arsenale würden aber dabei nicht „europäisiert“, sondern würden weiterhin Frankreich unterstehen.

Die von Frankreich und Großbritannien lancierte Strategie der „nuklearen Minimalabschreckung“ kommt der deutschen Haltung am ehesten entgegen, die eine „Trennung von Abschreckung und Kriegsführung“ im Fokus hat.

Im deutlichen Gegensatz dazu steht die atomare Strategie der in der NATO bestimmenden Macht, USA. Die in der Ära Trump vorangetriebene Modernisierung der eigenen nuklearen Arsenale sieht „flexibel einsetzbare, atomare Systeme für einen eventuellen begrenzten Atomkrieg“ vor. Wie diese diesbezüglich deutlich divergierende Denkweise zwischen Washington und Berlin künftig in der NATO auf einen Nenner gebracht werden könne, ist und bleibt eine offene Frage.

Mit Amtsantritt der neuen US-Administration von US-Präsident Joe Biden dürften sich die eher angespannten transatlantischen Beziehungen seit der Ära seines Vorgängers wieder entspannen. Doch werden die Europäer um einen verstärkten Aufbau ihrer militärischen Rüstungskapazitäten nicht herumkommen. 

 

Abgeschlossen: Anfang März 2021

 


Anmerkungen:

[1] Lee Willett, „STRIKE RESURGENCE - French, UK carrier air wings add punch to CSG presence in the North Atlantic“. In: Naval Forces 3-4/2020, S. 28-30.

[2] Patrick Bellouard / Jean-Paul Perruche / Patrice Mompeyssin / Nathalie de Kaniv, „TRENTE ANS APRÈS LA CHUTE DU MUR DE BERLIN: OÙ EN EST LA DÉFENSE DE L’EUROPE?“. In: Revue Défense Nationale 5/2020, S. 39-46.

[3] Siehe dazu etwa: Peter Rudolf, „DEUTSCHLAND, DIE NATO UND DIE NUKLEARE ABSCHRECKUNG“. In: SWP-Studie 11/2020, S. 1-24.

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Weiterführende LINKS:

Zeitleiste: Zusammenarbeit der EU im Bereich Sicherheit und Verteidigung

European Defence - Ministry for Europe and Foreign Affairs

Zusammenarbeit von EU und NATO

Die Rolle der Nato für Europas Verteidigung - SWP

Europäische Verteidigungspolitik | bpb

EU-Verteidigungspolitik: Nur auf dem Papier ist alles bestens - FAZ

Die Europäische Union und die NATO

Europäische Sicherheits und Verteidigungspolitik

EU rückt militärisch weiter zusammen

European defence / NATO Archives - Egmont Institute

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Atomwaffen - Warum es immer noch 13.400 Atombomben gibt

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