DIE ZUKUNFT DER EUROPÄISCHEN VERTEIDIGUNG
Update Mitte Jänner 2023
In Zeiten des Krieges in der Ukraine ist die Verteidigung Europas mit einem konkreten Engagement der EU und der NATO wieder zu einer Priorität geworden. Daher ist es notwendig, die Kooperationsprozesse zwischen den beiden Institutionen durch effizientere Mechanismen zu verbessern. In der Vergangenheit hat die Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO eine ehrgeizige Phase durchlaufen, die ihren Ursprung in der sogenannten „Berlin+“-Vereinbarung hat. Diese Vereinbarung stammt aus den frühen 2000er-Jahren. Im Großen und Ganzen legt sie einen Rahmen und die Bedingungen fest, unter denen vorab identifizierte Fähigkeiten und Mittel der NATO von der EU für Krisenbewältigungsoperationen unter ihrer Führung genutzt werden können. Das Abkommen regelt die Modalitäten der Konsultation zwischen den beiden Organisationen, den Austausch von Verschlusssachen, die Zusammenarbeit bei der Planung und die Verfahren für die Bereitstellung, Überwachung, Rückgabe sowie den Rückruf der bereitgestellten Mittel. Schließlich identifiziert es eine Reihe von Führungsoptionen, die dem - damals britischen und damit europäischen - Stellvertreter des SACEUR (Supreme Allied Commander in Europe), des Befehlshabers der Bündnisstreitkräfte in Europa, eine besondere - aber nicht ausschließliche - Rolle zuerkennen. Diese Vereinbarung führte 2003 zur Übertragung der NATO-Operation in Mazedonien auf die EU. 2004 folgte die Operation in Bosnien. Seitdem wurden bei keiner der von der EU geführten Operationen NATO-Mittel eingesetzt. So traten zwischen 2004 und 2007 neun Länder aus Europa und Osteuropa der EU bei, die zuvor NATO-Mitglieder waren und grundsätzlich an der Vorherrschaft der Allianz festhielten. Obwohl diese Länder gelegentlich zu EU-Operationen beitrugen, insbesondere zu „Althea“ (als Nachfolgemission der von der NATO geführten Missionen IFOR und SFOR in Bosnien und Herzegowina seit 2004), bekämpften sie alles, was die NATO an ihren östlichen Grenzen schwächen könnte. Die Finanzkrise von 2008 hat die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik von den Prioritäten der EU verdrängt, zumal die unmittelbare Sicherheit des Kontinents nicht gefährdet schien. Die Türkei bremste beim Beitritt Zyperns zur EU. Die Türkei lehnte den EU/NATO-Dialog in Anwesenheit Zyperns systematisch ab, da die Streitigkeiten zwischen den beiden Staaten dies blockierten. (Ebenso bremst die Türkei derzeit den NATO-Beitrittsprozess Schwedens und Finnlands, weil beide nordische Länder angeblich zu wenig gegen PKK-Vertreter in ihren Gesellschaften vorgehen würden.) Darüber hinaus gab es einen Wettbewerb zwischen der EU und der NATO. Zum Beispiel, als beide Organisationen zwei verschiedene Operationen zur Unterstützung der Afrikanischen Union in Darfur 2005 durchführten. Aber auch, als die Allianz nach dem Start der EUNAVFOR-Operation „Atalanta“ im Jahr 2008 zur Bekämpfung der Seepiraterie im Golf von Aden und vor der Küste Somalias die Operation „Ocean Shield“ lancierte, um die gleichen Aufgaben im gleichen Meeresraum zu erfüllen.[1] In Anbetracht der Schwierigkeiten zog sich die EU schließlich auf zivile Missionen zurück, militärische Missionen am unteren Ende des Spektrums erforderten keinen Rückgriff auf NATO-Mittel. Die NATO behielt ihrerseits die militärischen Missionen des oberen Spektrums bei, was dem Kontext, den Mitteln und den militärischen Ambitionen beider Seiten entsprach. Die transatlantischen Beziehungen waren seit dem 11. September 2001 durch den Kampf gegen den Terrorismus geprägt, wobei sich die Ansätze weiterentwickelt haben. Heute stellt Washingtons Fokus auf den Indopazifik-Raum die Grundlagen insbesondere auf europäischer Seite in Frage, da die Europäer neue Verantwortlichkeiten übernehmen müssen. Doch der russische Angriffskrieg gegen das unabhängige Nachbarland Ukraine hat die Karten völlig neu gemischt. (Dazu zählt auch der nicht unbedeutende Transfer westlicher Waffensysteme an die ukrainischen Streitkräfte in ihrem Abwehrkampf gegen Russland.) In den letzten zwanzig Jahren ist der Kampf gegen den Terrorismus zu einem der wiederkehrenden Themen der Zusammenarbeit, wenn nicht sogar des Bündnisses zwischen Europa und den Vereinigten Staaten geworden. Als sich der Nordatlantikrat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zum ersten Mal in der Geschichte des Bündnisses auf Artikel 5 des Washingtoner Vertrags berief, sollte dies zwei Jahrzehnte einläuten, in denen die transatlantische Solidarität größtenteils an den Fortschritten im Bereich der Terrorismusbekämpfung gemessen werden sollte. Die Bedeutung dieser Beziehung hat sich jedoch im Laufe der Zeit verändert und tendenziell umgekehrt.[2] Im ersten Jahrzehnt zielten die Bemühungen der Europäer vor allem darauf ab, die Forderungen der USA zu erfüllen und Solidarität zu demonstrieren - sei es durch die Zusammenarbeit im Bereich der Nachrichtendienste oder durch den europäischen Beitrag zu den großen amerikanischen Operationen im Rahmen des „Krieges gegen den Terror“ in Afghanistan und im Irak. Ab 2011 jedoch, als Amerika unter dem Einfluss des damaligen US-Präsidenten Barack Obama seinen Fokus nach Asien einleitete, waren es die Europäer, die angesichts der geografisch näher gerückten terroristischen Bedrohung sowohl in der Levante als auch in der Sahelzone zunehmend die Position einnahmen, amerikanische Hilfe anzufordern. Diese Asymmetrie hat sich seit dem Fall des territorialen Kalifats der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) und der strategischen Neuausrichtung der USA auf den asiatisch-pazifischen Raum zum Zwecke eines strategischen Wettbewerbs mit China immer weiter verstärkt. Für Washington wurde der Kampf gegen den Terrorismus auf der Liste der Prioritäten für die nationale Sicherheit immer mehr zurückgestuft. Die Verbündeten in Europa und anderen Ländern können es sich nicht leisten, einer Bedrohung den Rücken zu kehren, die sich in ihrer Nachbarschaft und im Herzen ihrer Gesellschaft festgesetzt hat. Sie werden sich zunehmend allein den Dämonen des Dschihadismus stellen müssen, während sie gleichzeitig ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, die transatlantische Solidarität in einem anspruchsvolleren Bereich des Fähigkeitsspektrums - dem der hohen Intensität - zu gewährleisten. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte hat China im Zuge der russischen Invasion der Ukraine ab 24. Februar 2022 die europäische Bühne betreten. Es hat Russlands Forderung nach einem Ende der NATO-Ausdehnung nach Osteuropa als „legitim“eingestuft.[3] Europa, das bis vor kurzem noch glaubte, überall auf der Welt, im Nahen Osten, in Afrika und in Asien eingreifen zu können, um zu versuchen, Krisen zu lösen, Konflikte zu schlichten, den Terrorismus zu bekämpfen, die Demokratie und die Achtung der Menschenrechte zu fördern, wird zum Schauplatz einer blutigen und immer wilderen Konfrontation, die von wohlmeinenden Drittmächten (von der Türkei über Israel bis hin zu China) beobachtet wird. Bis die USA aus Sorge vor einer Eskalation, die sie nicht unter Kontrolle haben, sich dazu entschließen, die Wogen zu glätten, wie sie es auf dem Balkan nach jahrelangem Krieg mit dem Dayton-Abkommen von 1995 getan hatten. Auch inmitten des laufenden Ukraine-Krieges scheint die Rolle der EU zwischen einer von den USA beherrschter NATO und Russland trotz mancher verbaler Ankündigungen aus den EU-Zentralen eher begrenzt zu sein, meinen Kritiker. Mit der Rückkehr der westlichen Vormacht auf dem alten Kontinent dürften auch die geostrategischen und machtpolitischen Parameter der westlichen Verteidigungsstrukturen in Europa neu bestimmt werden. Tatsächlich spielt Washington zumindest in dieser Phase eines Stellvertreterkrieges in der Ukraine mit Russland eine bestimmende Rolle als einmal mehr wieder „europäische Macht“.
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| U.S. European Command (USEUCOM) blickt seit 1952 auf eine lange und bewegte Geschichte zurück, in der es an mehr als 200 namentlich genannten Einsätzen teilgenommen hat, darunter unter anderem humanitäre Hilfe und Missionen bei Naturkatastrophen. Da alte Bedrohungen zu neuen Bedrohungen werden, stimmt USEUCOM seine Planungen weiterhin mit der nationalen Strategie ab und entwickelt Richtlinien, die bestehende und geplante Infrastrukturinvestitionen in ganz Europa nutzen, um die nach dem Ende des Kalten Krieges vorgenommenen Kürzungen rückgängig zu machen. Als Reaktion auf die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 haben USEUCOM und die europäischen Verbündeten ihr Engagement für Verteidigungsausgaben erhöht und ihre Streitkräfte und Präsenz neu ausgerichtet, um weitere russische Aggressionen abzuwehren.[4] Eine nationale Strategie, die durch einen kohärenten Infrastrukturplan untermauert wird, würde unbeabsichtigte Folgen historischer Pendelschwünge bei der Mittelausstattung abmildern. Die Verabschiedung einer durchdachten Infrastrukturplanungsstrategie auf der Ebene des Einsatzgebietes soll die Ressourcen effizienter und flexibler gestalten, um die gewünschten Bedingungen für die Sicherung der euro-atlantischen Region zu erreichen, einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen, die glaubwürdige Abschreckung und Verteidigung der NATO zu unterstützen und die globale Machtprojektion der USA zu ermöglichen. Die Koordinierung und Synchronisierung des Infrastruktureinsatzplanes mit der EU-Planung/-Ressourcenausstattung bringt den Operationsplan des USEUCOM-Befehlshabers voran und verringert das Risiko einer unzureichenden Unterstützungsinfrastruktur in Krisenzeiten. Die Geschichte von USEUCOM zeigt, dass es immer wieder zu Konflikten mit kongruenter Mittelausstattung kommt. Da die nationale Strategie weiterhin auf globale Bedrohungen abzielt und die Ressourcen ausbalanciert, muss die Infrastrukturplanung von USEUCOM durch alternative Mittel unterstützt werden, um die Auswirkungen einer Neuausrichtung der Ressourcen zu minimieren. Die realisierten Auswirkungen des Infrastruktureinsatzplanes gewährleisten eine kohärente Architektur, die dynamisch und flexibel genug ist, um den heutigen Anforderungen für den Kampf von morgen gerecht zu werden. |
Am 28. September 2021 unterzeichneten Frankreich und Griechenland ein Militär- und Sicherheitsabkommen. In Paris brachten der französische Präsident Emmanuel Macron und der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis ein sogenanntes strategisches Kooperationsabkommen auf den Weg. Es beinhaltet den Verkauf von drei Kriegsschiffen an Athen. Die Fregatten des Typs Belharra sollen in Frankreich hergestellt werden. Der Umfang des Vertrags kommt mit rund 5 Milliarden Euro nicht an denjenigen des geplatzten U-Boot-Geschäfts mit Australien heran, von dem sich die französische Industrie mindestens 8 Milliarden Euro erhoffte. Doch der Auftrag reihte sich an den Kauf von 24 Rafale-Kampfflugzeugen (12 davon gebraucht) seit Jahresbeginn 2021. Es sei der Ausbau einer bereits bestehenden Allianz, so die beiden Staatschefs. Das Abkommen weise jedoch auch den Weg für eine militärisch und außenpolitisch unabhängigere EU. Die Franzosen hätten Griechenland nicht nur bei den ausufernden Waldbränden, sondern auch im Sommer 2020 in sehr schwierigen Momenten unterstützt, betonte Mitsotakis. Damals erreichten die Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei im östlichen Mittelmeer einen Höhepunkt. Ankara hatte Forschungsschiffe zur Erkundung von Rohstoffvorkommen in von Griechenland beanspruchte Gewässer geschickt. Paris eilte der griechischen Marine mit einer Fregatte zu Hilfe und verlegte vorübergehend zwei Kampfflugzeuge nach Zypern. Macron erinnerte zudem daran, dass Griechenland in einer unruhigen Region an vorderster Front stehe, wo nicht nur griechische Interessen, sondern auch europäische und französische tangiert seien. Das Verhältnis zwischen Paris und Ankara ist seit längerem angespannt. Einerseits vertreten die beiden NATO-Partner unterschiedliche Interessen im Libyen-Konflikt. Andererseits hallen die harschen Worte Erdogans, die er nach der Enthauptung eines Lehrers in Frankreich 2020 an Macron richtete, immer noch nach. Macron erklärte, dass auch ein verteidigungspolitisch eigenständigeres Europa weder eine Alternative zu anderen Allianzen sei noch ein Ersatz dafür. Die USA würden ein wichtiger Partner bleiben - aber einer, der sich mehr und mehr auf sich selbst konzentriere beziehungsweise sich Richtung China und Pazifik orientiere. Darauf müsse Europa reagieren. Fast zeitgleich berieten der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin in Sotschi über den Verkauf von weiteren russischen Raketensystemen an Ankara. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine änderte sich die Gesamtlage dramatisch. Nicht nur die NATO, sondern auch die EU begann nunmehr in militärisch-rüstungstechnischen Kategorien zu denken. Am 21. März 2022 kamen die EU-Außen- und -Verteidigungsminister in Brüssel zu einem Treffen zusammen, um einmal mehr über die Folgen des Ukraine-Krieges zu beraten. Neben verstärkten Waffenlieferungen für die Ukraine gaben die Ministerinnen und Minister auch grünes Licht für den „strategischen Kompass“. Jene Militärstrategie, mit der sich die EU bei Sicherheit und Verteidigung neu aufstellen will - inklusive eigener militärischer EU-Eingreiftruppe. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von einem Wendepunkt in der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Der „Strategische Kompass“ sei „ein starkes Signal der Einheit und Entschlossenheit“ und komme nach zwei Jahren Arbeit „zu einem ganz wichtigen Zeitpunkt“. Nun brauche es nicht nur eine verbesserte Koordination zwischen den Mitgliedsstaaten, sondern auch höhere Verteidigungsausgaben. Die derzeitigen 1,5 Prozent des BIP seien nicht ausreichend, so Borrell. Was die Eingreifgruppe betreffe, so handle es sich nicht um die Schaffung einer europäischen Armee, sondern um eine verbesserte Zusammenarbeit der nationalen Streitkräfte. Die Kriseninterventionstruppe soll bis 2025 einsatzfähig sein und bis zu 5.000 Soldatinnen und Soldaten aus den Mitgliedsländern umfassen. Zur neuen Truppe sollen laut Borrell je nach Bedarf neben Bodentruppen auch Luft- und Seestreitkräfte gehören. Die Soldaten müssten Borrells Worten zufolge jedenfalls „für Krisensituationen“ ausgerüstet und mobilisiert werden können. Dafür werde es auch gemeinsame Truppenübungen geben. All das verstehe sich jedoch nur als Ergänzung zur NATO, diese bleibe „sicherlich der Eckstein der territorialen Verteidigung Europas“, so Borrell. Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) bezeichnete die Einsatztruppe als „militärisches Herzstück“ der neuen Militärstrategie. So wird in der jüngsten Version des EU-Strategiepapiers deutlicher gemacht, dass sich die EU auch mit nuklearen Bedrohungen auseinandersetzen muss. Ein Satz, der die Zusammenarbeit mit Moskau in ausgewählten Themenbereichen ermöglichen sollte, wurde hingegen ersatzlos gestrichen. „Es ist nicht die Antwort auf den Ukraine-Krieg, aber Teil der Antwort“, sagte Borrell. Man müsse sich jetzt Gedanken über die europäische Fähigkeit machen, mit Herausforderungen wie mit einem Krieg umzugehen. Konkret hieß es in dem Dokument: „Das zunehmend feindselige Sicherheitsumfeld erfordert von uns einen Quantensprung nach vorne und die Steigerung unserer Handlungsfähigkeit und -bereitschaft.“ Und: Man sei entschlossen, die europäische Sicherheitsordnung zu verteidigen. Das impliziere neben der Eingreiftruppe etwa eine stärkere sicherheitspolitische Unterstützung der östlichen Nachbarländer sowie gemeinsame Beschaffungen von Verteidigungsfähigkeiten. Auch Österreich schließe sich dieser Eingreiftruppe an - der Neutralitätsstatus sei hier nicht im Weg, so Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP). Dabei verwies sie auch auf die Teilnahme an den bisher nie eingesetzten Battlegroups. Angesichts dieser „herausfordernden Situation“ gelte es nun schneller zu werden und sich „robuster“ aufzustellen.
Die EU im KrisenmodusDas Verhandlungstreffen am 29. März 2022 in Istanbul schien den Grundstein für eine mögliche Regelung zu legen, auch wenn die „Fortschritte“, die die russische Verhandlungsseite zu erkennen glaubte, unmittelbar nach dem Treffen vom Kreml-Sprecher dementiert wurden. Laut Russland und wie bereits zuvor von den russischen Behörden angekündigt, sollte die Regelung folgende Fragen behandeln: Neutralisierung der Ukraine, Status für die selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk, Anerkennung der Annexion der Krim und vor allem die „Entnazifizierung“ des Landes. Zum ersten Mal hatte die ukrainische Seite diese Themen damals aufgegriffen und gleichzeitig die Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung Voraussetzung für jede Lösung war. Wer wird die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine garantieren, sobald sie „neutralisiert“ ist? Die unglückliche Erfahrung mit dem Budapester Memorandum von 1994, in dem Russland, die USA und das Vereinigte Königreich die territoriale Integrität der Ukraine als Gegenleistung für den Verzicht auf die von der Sowjetunion auf ukrainischem Gebiet stationierten Atomwaffen garantierten, veranlasste Präsident Selenskij, von den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats mit einem Mechanismus, der der automatischen Verpflichtung nach Artikel 5 der NATO nahe kam, weitaus solidere Garantien zu verlangen. Die Ukraine hatte sich jedoch bereit erklärt, über die Neutralisierung des Landes zu sprechen. Im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine schien nunmehr ein Neutralitätsstatus der Ukraine für die ukrainische Führung undenkbar bzw. in weite Ferne gerückt. Nach der Annexion ehemals ukrainischer und von russischen Truppen eroberter Regionen durch Moskau ließen auch die EU- und NATO-Staaten erkennen, dass sie einer solchen in Scheinreferenden zustandegekommenen Annexion dieser Gebiete niemals zustimmen würden.
Zum ersten Mal in der Weltgeschichte hat China die europäische Bühne betreten. Es hat Russlands Forderung nach einem Ende der NATO-Ausdehnung nach Osteuropa als „legitim“ eingestuft. Peking hatte direkt mit den USA über den Grad der wirtschaftlichen Unterstützung für Russland gesprochen. China wird den Grad der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit Russlands weitgehend bestimmen, es ist vielleicht das einzige Land, das zu gegebener Zeit in der Lage sein wird, einen mäßigenden Einfluss auf den Kreml auszuüben. Peking blieb in Bezug auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mehr als zurückhaltend und forderte die Einhaltung des internationalen Rechts. Europa, das bis vor kurzem noch glaubte, überall auf der Welt, im Nahen Osten, in Afrika und in Asien eingreifen zu können, um zu versuchen, Krisen zu lösen, Konflikte zu schlichten, den Terrorismus zu bekämpfen, die Demokratie und die Achtung der Menschenrechte zu fördern, wird zum Schauplatz einer blutigen und immer wilderen Konfrontation, die von wohlmeinenden Drittmächten (von der Türkei über Israel bis hin zu China) beobachtet wird. Bis die USA aus Sorge vor einer Eskalation, die sie nicht unter Kontrolle haben, sich dazu entschließen, die Wogen zu glätten, wie sie es auf dem Balkan nach jahrelangem Krieg mit dem Dayton-Abkommen von 1995 getan hatten. Frankreich hatte sich lange Zeit für ein Europa eingesetzt, das seine Rolle in einer zunehmend multipolaren Welt voll wahrnimmt. Die russische Aggression gegen die Ukraine drängt die EU brutal in eine geopolitisch unbedeutende Position zurück, aus der sie mit zunehmender Dauer des Konflikts in der Ukraine immer schwieriger herauskommen wird. Nunmehr muss sich die EU verstärkt ihrer geopolitischen und geostrategischen Rolle in Europa bewusst werden. Durch die geopolitischen Verwerfungen im Rahmen des Ukraine-Krieges haben diese Aktivitäten, die bisher erst im Anlaufen waren, eine neue Dynamik erhalten.
Ein „Europa der Verteidigung“ - aus französischer SichtFrankreich hat ein starkes Bestreben, seine strategische Autonomie mit einer soliden industriellen und technologischen Verteidigungsbasis zu stärken, die durch kohärente Programme unterstützt wird. Die europäische Dimension ist eine der Fortschrittsachsen, die es ermöglicht, den Herausforderungen von morgen zu begegnen. Frankreich wird sich über die Generaldirektion für Rüstung (DGA) voll und ganz daran beteiligen.[5] Seit 2017 erlebt das „Europa der Verteidigung“ mit dem Start von Initiativen wie der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit oder dem Europäischen Verteidigungsfonds einen deutlichen Aufschwung. Da der Europäische Rat gerade den Strategischen Kompass angenommen hat, müssen die europäischen Partner gemeinsam eine Reihe von Herausforderungen bewältigen, um ein Europa der Verteidigung aufzubauen, das an Stärke gewinnt, um eine widerstandsfähige europäische verteidigungstechnische/-industrielle Basis zu unterstützen - ohne dass Frankreich seine eigenen Herausforderungen und Interessen vernachlässigt. Für Europa ist es von entscheidender Bedeutung, seine strategische Autonomie zu schärfen, um seine Interessen in einem angespannten geopolitischen Umfeld zu verteidigen. Frankreich will dabei helfen, dieses Europa der Verteidigung aufzubauen, das den aktuellen Herausforderungen gewachsen ist - dies erfordert in erster Linie eine starke nationale Rüstungspolitik. Die Verteidigungsindustrie ist ein unverzichtbares Instrument für die Behauptung der Souveränität Frankreichs, das sich seine Beurteilungs- und Handlungsfreiheit im militärischen Bereich bewahren will. Eine Armee, die nicht die volle Kontrolle über ihre Ausrüstung hat, verfügt zwangsläufig über einen geringeren Handlungsspielraum, weshalb es wichtig ist, über eine nationale Industrie zu verfügen. Die operative Autonomie der Streitkräfte, die für die Behauptung der Souveränität notwendig ist, ist in der Tat ohne beherrschte technologische und industrielle Ressourcen nicht erreichbar.[6] Darüber hinaus stellt die Anpassung des strategischen Kompasses einen Meilenstein in der Geschichte der europäischen Verteidigung dar, das erste echte Weißbuch der europäischen Verteidigung. Es legt die europäischen Ambitionen für ein „Europa der Verteidigung“ bis zum Jahr 2030 fest. Dies trägt zur Förderung einer gemeinsamen strategischen Kultur bei und ermöglicht es, der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsagenda einen neuen Impuls zu geben - hin zu mehr strategischer Autonomie Europas, indem eine gemeinsame Vision des strategischen Umfelds geteilt wird. Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsagenda (ESVP) ist ein Instrument, mit dem die EU in die Lage versetzt werden soll, die Sicherheit des Kontinents und ihrer Bürger zu verteidigen, indem sie die Maßnahmen im Bereich Sicherheit und Verteidigung kohärenter gestaltet, neue Wege wie Mittel zur Verbesserung der eigenen kollektiven Fähigkeit zur Verteidigung entwickelt und Ziele und Meilensteine zur Messung der erzielten Fortschritte festlegt. Die jüngsten Ereignisse haben die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Verwirklichung eines Europas der Verteidigung erneut unterstrichen.
„Deutsch-französischer Motor“ stottert immer mehrSpätestens seit Beginn des Ukraine-Krieges gibt es viele Reibungsflächen und unterschiedliche außenpolitische Standpunkte zwischen Frankreich und Deutschland. Sie spielten nur deshalb eine untergeordnete Rolle, weil Washingtons Führungsrolle in Bezug auf den Ukraine-Krieg es Berlin und Paris ersparte, untereinander einig zu werden. Die großen Fragen werden weiterhin in Washington geklärt - Frankreich und Deutschland müssen nur noch über ihren Beitrag zur westlichen Strategie entscheiden. Doch hinter den Kulissen wurden wachsende Unstimmigkeiten immer deutlicher. Als der französische Präsident Emmanuel Macron im Mai 2022 den Aufbau einer „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ vorschlug, war das eine unilaterale Bestrebung, kein mit Deutschland abgestimmter Vorschlag. Berlin akzeptierte zwar die Idee, sprach aber am Ende lapidar von einer „Diskussionsplattform“. Im Hintergrund wird der Konflikt zwischen Paris und Berlin über den künftigen Umgang mit Osteuropa immer sichtbarer. Deutschland ist weitaus mehr geneigt, neue Länder im Osten in die EU aufzunehmen, während Frankreich bei der Erweiterung auf die Bremse tritt. Vor allem, weil Paris Sorge hat, dass sich der Schwerpunkt der EU weiter nach Osten verlagert und damit Deutschland an Bedeutung gewinnt. Hinzu kommen Konflikte im Bereich Energie. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat versucht, den Druck auf Frankreich zu erhöhen, eine Gaspipeline von Spanien nach Frankreich zu bauen. Der deutsche Kanzler hatte sich mit Spanien geeinigt - doch Macron hatte das Projekt dann endgültig schubladisiert, indem er sich mit Spanien und Portugal auf ein Alternativprojekt verständigte. Statt sich bilateral zu einigen, matchen sich Berlin und Paris immer erkennbarer auch auf offener Bühne. Und für das deutsche Abschalten der Kernkraftwerke fehlt in Frankreich jedes Verständnis. Frankreich und Deutschland sind auch uneinig darüber, ob die 200 Milliarden Euro, mit denen die Bundesregierung die Folgen der hohen Energiepreise für Haushalte und Wirtschaft abfedern will, den Wettbewerb im Binnenmarkt verzerren. Und schließlich ist Frankreich nicht glücklich damit, dass Berlin das „Sondervermögen“ für die Bundeswehr dazu nutzt, auf dem Markt verfügbare Rüstungsgüter oft außereuropäischer Herkunft zu kaufen, statt auf langfristige Zusammenarbeit mit Frankreich zu setzen. Dass der „deutsch-französische Motor“ nicht mehr richtig funktioniert, liegt jedoch nicht einfach nur am Fehlen der „Chemie“ zwischen Scholz und Macron.[7] (Zwischen Deutschland und Frankreich hat es in den zurückliegenden Jahrzehnten oft geknirscht. Doch gegenseitige Positionen wurden letztlich im Stillen „hinter den Kulissen“ ausgetragen. Das galt für Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, es galt für Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing, für Gerhard Schröder und Jacques Chirac, es galt für Angela Merkel im Verhältnis zu François Hollande und Emmanuel Macron.) Heute haben die seit dem Ukraine-Krieg aufgebrochenen geopolitischen Verwerfungen am europäischen Kontinent die Bruchlinien zwischen Deutschland und Frankreich stärker hervortreten lassen, die früher durch „mediale Freundschaftsbekundungen“ unter den Teppich gekehrt werden konnten. Frankreichs Antwort auf die wachsenden globalen Spannungen lautet: Streben nach Autonomie, Ausbau der EU zum eigenständigen Machtblock mit einer französischen Führungsrolle. Deutschland hingegen setzt weiterhin auf das transatlantische Bündnis und auf globale Offenheit. Für Macron waren der Austritt Großbritannien aus der EU die Chance, seine Vision einer „souveränen“ Union voranzubringen. Doch Deutschland war bei allem Zögern nicht ernsthaft bereit, auf diesen Zug aufzuspringen. Mit der russischen Invasion in der Ukraine zeigte sich, dass es auf lange Zeit keine realistische Alternative zur geopolitischen Konstellation des Westens geben würde, in der - zum Leidwesen Frankreichs - Deutschland wieder eine deutlich gewichtigere Rolle spielen dürfte als bisher. Dennoch bleibt für Macron die Souveränität Europas unter französischer Führung das Ziel französischer Außenpolitik. Die alte deutsch-französische Freundschaft nach dem Zweiten Weltkrieg dürfte so nicht mehr zurückkommen. Sie beruhte im Kern darauf, dass beide Seiten im Schatten amerikanischer Vormacht geopolitische Fragen ausklammern konnten.[8]
Es wird sich erst zeigen, wie tiefgehend die geopolitisch-militärisch-ökonomischen und sozialen Verwerfungen infolge des Ukraine-Krieges den europäischen Kontinent in seiner derzeitigen Ausgestaltung im Kern treffen und auch wahrscheinlich auch längerfristig verändern werden. Eines scheint jedenfalls bereits erkennbar zu sein: Ein Zurück zu alten Pfaden dürfte nicht mehr möglich sein.
Abgeschlossen: Mitte Jänner 2023
Anmerkungen: [1] Hervé Rameau / Pascal Roux, „DÉFENSE DE L’EUROPE ET EUROPE DE LA DÉFENSE“ (2/2). In: Revue Défense Nationale 5/2022, S. 90-97. [2] Élie Tenenbaum, „CONTRE-TERRORISME ET RELATIONS TRANSATLANTIQUES: UNE VALSE À CONTRETEMPS“. In: Revue Défense Nationale 1/2022, S. 26-33. [3] Jean de Gliniasty, „L’EUROPE VICTIME COLLATÉRALE DE L’INVASION DE L’UKRAINE PAR LA RUSSIE?“. In: Revue Défense Nationale 5/2022, S. 14-20. [4] Jon-Paul Depreo / Scott P. Raymond, „U.S. EUROPEAN COMMAND THEATER INFRASTUCTURE PLAN“. In: Joint Forces Quarterly – JFQ 2/2022, S. 69-74. [5] Siehe dazu: Joël Barre, „L’EUROPE DE L’ARMEMENT: ENJEUX TECHNOLOGIQUES ET INDUSTRIELS POUR LA FRANCE ET CONDITION DE L’AFFIRMATION GÉOSTRATÉGIQUE DE L’UE“. In: Revue Défense Nationale 6/2022, S. 64-72. [6] Vgl. Éric Béranger, „MAÎTRISER LES EFFETS EN MAÎTRISANT LES TECHNOLOGIES: ENJEUX DE L’AUTONOMIE STRATÉGIQUE EN EUROPE“. In: Revue Défense Nationale 6/2022, S. 57-63. [7] Das deutsch-französische Verhältnis ist auf dem Tiefpunkt. In: BlueNews-Online v. 20.10.2022: https://www.bluewin.ch/de/news/international/das-deutsch-franzoesische-verhaeltnis-ist-auf-dem-tiefpunkt-1427288.html [8] Der „EU-Motor“ stottert: Redebedarf zwischen Deutschland und Frankreich. In: DIE PRESSE-Online v. 27.10.2022: https://www.diepresse.com/6208026/der-eu-motor-stottert-redebedarf-zwischen-deutschland-und-frankreich |