Sicherheitskulturen zwischen den USA und Indien im Vergleich
Die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus als Leitlinie für die nationalen Sicherheitsbelange der USA wurde in der Vergangenheit häufig von Sicherheitsanalysten und politischen Entscheidungsträgern gleichermaßen in Frage gestellt. Die USA sind nicht die Einzigen, die in ihren außenpolitischen Erklärungen ihre außergewöhnlichen Werte hervorheben. Auch die indische Außenpolitik betont die einzigartigen zivilisatorischen Qualitäten Indiens, die das Land in die Lage versetzen, eine „friedliche“ Moderne im Gegensatz zur „gewalttätigen“ Moderne des Westens zu verfolgen.
Von zahlreichen internationalen Experten wird betont, dass die nationale Sicherheitskultur der USA durch die „Bedrohung durch den Anderen“ motiviert sei und das ihr Narrativ oft den Tenor „Wir gegen die Anderen“ habe.[1] Dies ist bis zu einem gewissen Grad darauf zurückzuführen, dass sich der US-Exzeptionalismus durch das Fehlen einer Gründungsgeschichte auszeichnet. Ihre nationalen Sicherheitsangelegenheiten sind darauf ausgerichtet, ihren Status in der Gegenwart und in der Zukunft zu sichern, ohne viel über die Vergangenheit nachzudenken - des eigenen Landes und der Welt, die sie mit ihren Ideen zu erobern versuchen. Im Vertrauen auf die Stärke ihrer politischen Werte und ihrer wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten schreitet sie voran. Gleichzeitig kann die Politik der USA nicht als die eines „Realisten mit Scheuklappen“ eingestuft werden. Sie trägt ein idealistisches und ethisches Element in sich, das transzendentaler Natur ist. Dies spiegelt sich jedoch auch in einer ausgeprägten Form des Andersseins wieder, nämlich der Rettung von Opferländern vor äußeren Bedrohungen.
Die indische nationale Sicherheitskultur war bisher durch weniger unmittelbare Anliegen motiviert. Sie versucht ihre Macht auf der Grundlage von Ethik zu konsolidieren, anstatt den anderen zu zwingen. Das liegt daran, dass der indische Exzeptionalismus sich selbst mit seiner besonderen Form der Kultur beschwichtigt. Der Glaube an eine ethische Moderne, der Glaube an die Weisheit des eigenen historischen und kulturellen Wertesystems und das Lernen aus den „Fehlern“ des Westens sind tief in das Verständnis globaler Normen eingebettet. Das dies für seine Politik oft katastrophale Folgen gehabt hat, weil es Bedrohungen unterschätzt und seine internen Fähigkeiten angesichts des großen Ganzen aus den Augen verliert, stört nicht. Der indische und der US-amerikanische Exzeptionalismus ähneln sich in ihrer Selbstüberzeugung und in der Bereitschaft, Isolationismus oder eine aktivistische Politik zu betreiben und gleichzeitig das Opfer zu spielen.
Konkrete streitkräftebezogene Vorschläge der USA gegenüber Indien: Beispiel US-Marine Corps
Die größte sicherheitspolitische Herausforderung, der sich das US-Marine Corps im künftigen Einsatzumfeld stellen muss, ist der Wettbewerb mit einem gleichwertigen Gegner. Die militärische Vorrangstellung der USA und damit ihr geopolitischer Einfluss wurde jahrzehntelang durch den größten Verteidigungshaushalt der Welt gewährleistet. In einer Zukunft, in der dies möglicherweise nicht mehr der Fall ist, müssen die Vereinigten Staaten und ihr Marine Corps andere Wege finden, um den Einfluss aufrechtzuerhalten und im Wettbewerb zu bestehen. Der Schlüssel dazu liegt in der Fähigkeit, einen glaubwürdigen regionalen Herausforderer zu fördern, um den Aufstieg Chinas auszugleichen. Als größte Demokratie der Welt und mit dem zweitgrößten Militärhaushalt in Asien ist Indien ein natürlicher Verbündeter für dieses Ziel. Um diese Bemühungen zu unterstützen sollte das US-Marine Corps eine Rotationstruppe in Indien stationieren, um sich regional zu engagieren, die Interoperabilität zu verbessern und sich für Eventualitäten und Krisenreaktionen zu wappnen, so US-Verteidigungsplaner.[2]
Die Volksrepublik China ist seit 2017 die größte Volkswirtschaft der Welt - gemessen am Bruttoinlandsprodukt zu Kaufkraftparitäten. Bald wird sie auch nominal die größte Volkswirtschaft der Welt sein. Peking hat diesen neu gewonnenen Reichtum genutzt, um seine Streitkräfte in einer Weise zu modernisieren und auszubauen, die als „beispiellos an Umfang und Tiefe“ beschrieben wird. Einigen Schätzungen zufolge belief sich der chinesische Verteidigungshaushalt im Jahr 2017 nach Bereinigung um buchhalterische und andere Unterschiede auf 467 Milliarden US-Dollar oder 87% der US-Militärausgaben für dasselbe Jahr. Wenn, wie einige Prognosen zeigen, Chinas Wirtschaft im Jahr 2040 dreimal so groß ist wie die der USA, dann ist es unvermeidlich, dass Peking in der Lage sein wird, die Verteidigungsausgaben Washingtons zu übertreffen. Über die reinen Ausgaben hinaus hat Peking aggressiv technologische Fortschritte im gesamten Spektrum moderner Waffensysteme verfolgt - einschließlich Weltraum und Cyberspace. Dies geschieht zusätzlich zu den Erfolgen bei der Entwicklung traditioneller Fähigkeiten, wie z.B. der hochentwickelten Präzisionsschlagplattformen mit großer Reichweite. Außerdem wird China zahlenmäßig immer im Vorteil sein. Im künftigen Einsatzumfeld kann die militärische Überlegenheit der USA nicht als selbstverständlich angesehen werden. Stattdessen müssen die Vereinigten Staaten und das Marine Corps den Blick nach außen richten, um ein starkes Bündnis gleichgesinnter Nationen aufzubauen, das dem aufstrebenden Riesen China Paroli bieten kann. Das wichtigste Land für diese Strategie ist Indien.
Wenn Indien nach Osten schauen will, sollten die Vereinigten Staaten das Land davon überzeugen, nach Westen zu denken. Das US-Marine Corps kann zu diesen Bemühungen beitragen, indem es eine Rotationstruppe in Indien bereitstellt und mit seinen indischen Partnern zusammenarbeitet. Auf diese Weise können die sicherheitspolitischen Herausforderungen gegenüber China im Großraum optimal gemeistert werden.
Das Ringen um den 5G-IT-Ausbau in Indien
Die indische Regierung hat bislang ihren Standpunkt zu den chinesischen Herstellern von Telekommunikationsgeräten noch nicht bekannt gegeben. Insofern mag Indiens Haltung bei der 5G-Technologie als unentschlossen erscheinen, da die verschiedenen Interessengruppen in der Frage der Beschaffung der technischen Ausrüstung aus der Volksrepublik China geteilter Meinung sind. Doch könnte diese Verzögerung auch eine „Verfeinerung“ der indischen Sichtweise in dieser wichtigen Frage darstellen, die eine „vorsichtige, abwartende Haltung“ rechtfertige, um zu einer Entscheidung zu gelangen, betonen Experten. Die neueste Generation der Mobilfunktechnologie (5G) ist in den Vordergrund einer anhaltenden geopolitischen und technologischen Rivalität zwischen der Volksrepublik China und den Vereinigten Staaten gerückt. Die als „transformativ“ bezeichnete Technologie ist die nächste Grenze der digitalen Revolution und wird ein integraler Bestandteil der kritischen Infrastruktur sein, die den Bedürfnissen von Regierung, Unternehmen und Privatpersonen gleichermaßen dient. Angesichts der Bedeutung von 5G wird der Erstanbieter dieser Technologie einen bedeutenden Vorteil gegenüber anderen Ländern erlangen und seine Position als wichtige Cyber-Macht festigen.[3]
Gegenwärtig hat der chinesische Telekommunikationsriese Huawei Technologies Co. Ltd. („Huawei“) den Markt dominiert und sich kontinuierlich zum führenden Anbieter und Hersteller dieser neuen Technologie entwickelt. Im Vergleich zu Ericsson und Nokia hat Huawei die größte Anzahl kommerzieller 5G-Verträge, den größten Marktanteil und führt das Rennen um die Patente für die 5G-Technologie an. Eine Kombination von Faktoren wie seine engen Beziehungen zur Regierung in Peking, die undurchsichtige Eigentümerstruktur und frühere Vorwürfe von Rechtsverletzungen haben jedoch Bedenken aufgeworfen, dass chinesische Ausrüstung für Spionage und Überwachung durch die chinesischen Behörden genutzt werden könnte. Noch wichtiger ist, dass die Zulassung von Huawei zur Teilnahme an den heimischen Märkten als gleichbedeutend mit der Anerkennung und Förderung von Chinas Ambitionen, eine technologische Supermacht zu werden, angesehen wird. Westliche Nationen betrachten diesen Schritt nicht nur als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit, sondern sehen darin auch eine permanente Verlagerung der globalen technologischen Führungsrolle von den Vereinigten Staaten nach China. Die USA unter Präsident Donald Trump hatten bereits gegen den chinesischen IT-Riesen konkrete Schritte unternommen.
Wie auch immer Neu-Delhi seine Entscheidung für oder gegen eine chinesische IT-Infrastruktur trifft: Die indische Regierung sollte sich der Herausforderung bewusst sein, vor der sie bei der Ausarbeitung einer politischen Position steht, die sowohl den wirtschaftlichen als auch den sicherheitspolitischen Aspekten dieser Debatte Rechnung trägt. In dieser Phase eines beispiellosen technologischen Wandels wird der geopolitische Wettbewerb zwischen den beiden wichtigsten Mächten der Welt wahrscheinlich nur noch ausgeprägter werden. Andere Nationen, darunter Indien, sind sich der Folgen dieser sich entfaltenden Dynamik wohl bewusst und bereiten sich darauf vor, sich den Herausforderungen dieser aufkommenden „Technologie-Geopolitik“ zu stellen.
Fokus: Die Marinefliegerverbände Indiens inmitten eines rasanten Wandels
Die indische Marinefliegerei steht an einem Scheideweg. Da die indische Marine seit 1961 über solche Kapazitäten auf Flugzeugträgern verfügt, ist die Erneuerung dieser Komponente schwierig und kostspielig, während die indische Flotte mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert ist, darunter der Aufstieg Chinas zur Großmacht.
1965 brach nach der Verschärfung der Spannungen in der Kaschmir-Region der zweite indisch-pakistanische Krieg aus. Da sie damals nicht in der Lage war, sich in den Konflikt einzumischen und die Bombardierung der eigenen Küsten zu verhindern, so wurde die indische Marine als der „arme Verwandte“ der indischen Streitkräfte angesehen. Die INS Vikrant, der erste Flugzeugträger ehemals britischer Bauart der indischen Marine, der sich zu jener Zeit zu Wartungsarbeiten im Dock befand, hätte trotz der Begeisterung, die ihre Indienststellung vier Jahre zuvor ausgelöst hatte, in den Status eines „weißen Elefanten“ zurückversetzt werden können.[4]
Indiens strategische Doktrin ist historisch aufgrund von Rivalitäten mit den Nachbarmächten auf den Kontinent ausgerichtet. Britisch-Indien stand im 19. Jahrhundert vor allem im Zentrum der Feindschaft zwischen Russland und dem Vereinigten Königreich.[5] In der Folge war und ist es die Rivalität mit seinem pakistanischen Nachbarn nach der Unabhängigkeit, die die indische strategische Organisation und das Denken bislang dominiert hat. Davon zeugt das überwältigende Primat der Armee im indischen Verteidigungsapparat, das bis heute gilt. Infolgedessen blieb die indische Marine bis zum Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend eine „Küstenstreitmacht“, die hauptsächlich zur Küstenüberwachung, aber auch während verschiedener Konflikte mit dem pakistanischen Nachbarn mobilisiert wurde.
Paradoxerweise ist die Marinefliegerei mit dem Erwerb von Flugzeugträgern seit den 1960er-Jahren das Herzstück dieses Systems mit mehr als zehn Geschwadern, die entlang der Küste positioniert worden sind. Seit Anfang der 1990er-Jahre durchläuft Neu-Delhi einen großen doktrinären Wandel mit einer maritimen Strategie, die darauf abzielt, die indischen Seestreitkräfte in eine Hochseeflotte umzuwandeln. Es war vor allem der Niedergang seines wichtigsten Verbündeten, der UdSSR, der Indien dazu veranlasst hatte, seine diplomatische Vision zu erneuern, um neue Partner in der Region des Indischen Ozeans zu finden. Gleichzeitig verändert die Positionierung Chinas als führende Wirtschafts- und Militärmacht zur Jahrtausendwende auch das geostrategische Lagebild für Indien. Peking treibt ebenfalls den Aufbau seiner Flotte massiv voran und erhöht alle vier Jahre seine Kapazitäten um das Äquivalent der französischen Flotte in Bezug auf die Tonnage, wie Admiral Christophe Prazuck, Chef des französischen Marinestabs, bei einer Anhörung im Juli 2019 unterrichtete.
Indien fühlt sich durch die chinesische Strategie im Rahmen seines global ausgerichteten „Neuen Seidenstraßen“-Projekts, die von New Delhi als Versuch der Einkreisung wahrgenommen wird, besonders bedroht, auch wenn der größte Teil des chinesischen Handels über den Indischen Ozean abgewickelt wird. In dem Bestreben, seine lebenswichtigen Interessen zu schützen, basiert die Strategie Indiens auf der Stärkung der regionalen maritimen Zusammenarbeit, aber auch auf der Entwicklung seiner Flotte und der landgestützten Infrastrukturen. Bei diesem Versuch, eine Doktrin für die Kontrolle des Meeres zu entwickeln, sind die indischen Marinefliegerkräfte ein wertvolles Element, auf das die indische Regierung nicht verzichten kann. In einer Zeit, in der sich Indien in seiner unmittelbaren Umgebung durch die Entwicklung der maritimen Fähigkeiten und Ambitionen Chinas bedroht fühlt, wird die Entwicklung der Marinefliegerei zu einer zentralen Verteidigungsfrage für die kommenden Jahrzehnte. Zwar scheint der Flugzeugträger INS Vikramaditya (ehemals sowjetisch-russischer Bauart) aufgrund seiner beschränkten Eigenschaften nicht in der Lage zu sein, im Kontext eines möglichen klassischen Konflikts die Waage entscheidend zu halten. Dies gilt umso mehr, als das Projekt zum Bau eines dritten Flugzeugschutzsystems, das diese Schwächen teilweise beheben und die wachsende chinesische Präsenz im Indischen Ozean ausgleichen könnte, wahrscheinlich auf den Mangel an finanziellen Mitteln der Marine zurückzuführen ist. Die Marineluftfahrt ist jedoch nach wie vor ein entscheidendes Instrument für die Überwachung des Indischen Ozeans und den Schutz der wichtigsten Seeverkehrsverbindungen, um den indischen Handel von der Straße von Hormus und Bab-el-Mandeb bis zur Straße von Malakka zu gewährleisten. Obwohl die indische Marine auch mittelfristig nicht in der Lage zu sein scheint, mit den chinesischen Seestreitkräften - speziell im Indischen Ozean - zu konkurrieren, ist es dennoch wahr, dass ihre Hauptaufgabe darin besteht, die Sicherheit Indiens und seiner Handelsrouten zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang könnte die Stärkung eines maritimen Multilateralismus, insbesondere im Rahmen von Organisationen wie der Indian Ocean Rim Association und dem Indian Ocean Naval Symposium, der Luftwaffe der indischen Marine, neue Möglichkeiten bei ihrer Aufgabe bieten, die Ozeane zu sichern und die Freiheit der Schifffahrt zu schützen.
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Exkurs: Indische Außenpolitik zwischen Pragmatismus und Hinduismus Öffentliche Geschichten sind Erzählungen, die sich über Raum und Zeit erstrecken und die Unterscheidung zwischen Innen und Außen in Frage stellen. Indische Außenpolitikexperten haben sich stets mit der eigenen Vergangenheit beschäftigt und die Entstehung eines postkolonialen Staates zu skizzieren versucht. Die hier zitierte Studie[6] greift drei Fälle aus der indischen Außenpolitik auf, um zu verdeutlichen, wie unterschiedliche Vorstellungen von Indiens Identität umgestaltet wurden, um die eigene Außenpolitik zu legitimieren. Diese drei Fälle beziehen sich auf die Entscheidung des ersten indischen Premierministers Jawaharlal Nehru, dem Commonwealth beizutreten; auf das Bestreben einer seiner späteren Amtsnachfolger, Atal Bihari Vajpayee, die militärische Nuklearisierung des Landes voranzutreiben; und auf die Haltung des heutigen indischen Premierministers Narendra Modi gegenüber der Diaspora. Die Autoren argumentieren darin, dass sich manche außenpolitischen Entscheidungsträger in Indien aufgrund ihrer unkritischen Positionierung im strukturellen Realismus entweder nicht mit „öffentlicher Geschichte“ auseinandergesetzt oder Versionen der Vergangenheit erstellt haben, die ihre gegenwärtigen Praktiken mehr oder weniger begünstigten. Die öffentliche Geschichte wurde eingesetzt, um den rechtmäßigen Platz Indiens in der internationalen Ordnung zu beschwören und einen öffentlichen Konsens herbeizuführen, der die Interessen der Eliten bei der Durchsetzung ihrer außenpolitischen Entscheidungen fördert. Diese elitengesteuerte Strategie war und ist durch die vorherrschenden westlichen Vorstellungen und die kognitiven Kategorien geprägt, obwohl diese Eliten selbstbewusst das Schicksal einer Nation in die Hand nahmen, die als „postkolonial“ umgestaltet werden musste. Die postkoloniale Struktur unterstützt eine gewisse Verbindung und Validierung, die Teil der indischen Identität sind. Diese beiden Elemente sind in der öffentlichen Geschichte der indischen Außenbeziehungen zahlreich vertreten und verdeutlichen die ständigen Bemühungen der indischen Führung, diese Ambivalenz durch strategisches und selektives Erinnern und Vergessen zu überwinden. Wie passen sich zeitgenössische diplomatische Dienste an die Strategien hindu-nationalistischer Regierungen an? Neueste wissenschaftliche Untersuchungen gehen davon aus, dass die Verzögerungen bei der Verinnerlichung hindu-nationalistischer Normen und diplomatischer Praktiken nur zum Teil eine Funktion der ideologischen Fehlanpassung zwischen einer internationalistischen Bürokratie und einer hindu-nationalistischen Regierung sind. Entscheidend ist auch, inwieweit der Status der von den Bürokraten vertretenen sozialen Klasse durch das politische Projekt der Regierung entwertet wird.[7] Veränderte Sichtweisen im indischen Außenministerium sagen einiges aus: nicht nur über mögliche künftige Entwicklungen, sondern, was ebenso wichtig ist, über die zugrunde liegenden sozialen Spannungen der Vergangenheit, die erst jetzt an die Oberfläche kommen. Sie offenbaren Risse in den Kompromissen, die historisch bei der Schaffung des postkolonialen Indiens geschmiedet wurden. Auf diese Weise brechen sie einen Teil des scheinbaren Konsenses um kosmopolitische Eliten und diplomatische Repräsentation auf, der Indiens Engagement in der Welt seit der Entkolonialisierung bestimmt hat. |
Ukraine-Krieg Russlands und die Folgen
Die Ukraine und Russland waren bis vor dem Krieg für rund zehn Prozent des internationalen Stahlhandels verantwortlich. Infolge der russischen Invasion der Ukraine und der harten westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland sieht Indien als neben China weltgrößten Stahlproduzenten eine Chance, um wegen des Wegfalls vom russischen Stahlmarkt nun selbst für Europa in die Presche zu springen. Bislang ging nach Angaben der indischen Ratingagentur CRISIL mehr als ein Drittel von Indiens Stahlexporten nach Europa.
Parallel dazu hielt sich neben China auch Indien gegenüber der russischen Invasion der Ukraine diplomatisch zurück. Indien war schon zu Sowjetzeiten ein wichtiger Absatzmarkt für russische Rüstungsgüter - und ist es auch heute noch. Indien drängte zwar in Bezug auf den Ukraine-Krieg „auf die Deeskalation der Spannungen unter Berücksichtigung der legitimen Sicherheitsinteressen aller Länder“ und betonte damit die anhaltende indische Neutralität im Ukraine-Krieg. Bei der UNO-Resolution gegen Russland hatte sich Indien - zum Ärger westlicher Länder - der Stimme enthalten. Man müsse zur Diplomatie zurückkehren. Gewalt sei kein Mittel, um Ziele durchzusetzen, betonte das indische Außenministerium lediglich.
Verständlich wird dieses Verhalten New Delhis, wenn man die geostrategische Komponente betrachtet. Russland steht im Fokus der indischen außen- und sicherheitspolitischen Strategie, wo es darum gehe, Moskau nicht allzu sehr in die Arme Pekings zu treiben. Die beiden aufstrebenden asiatischen Mächte China und Indien verbindet seit den 1960er Jahren ein bis dato anhaltender Grenzkonflikt in der Himalaya-Region. Sollte sich Indien klar gegen Putins Russland und auf die Seite des Westens stellen, hat China mit Russland einen machtvollen und umso engeren Nachbarn und Verbündeten in dem regionalen Spannungsverhältnis.[8]
So betonten Indien und Russland zuletzt im Dezember 2021 bei Putins Besuch in Indien ihre „besondere privilegierte strategische Partnerschaft“ und vereinbarten weitere Rüstungsgeschäfte. Heute stammen 70 Prozent der Waffen der indischen Streitkräfte aus russischer Produktion. Darunter sind U-Boote, Kampfpanzer vom Typ T-90, Kampfflugzeuge (Suchoi Su-30) sowie Boden-Luft-Raketen des Typs S-400. Neu Delhi hob die „konstante Freundschaft“ beider Nationen hervor. Russland gilt als einer der größten Investoren im indischen Energiebereich. Zugleich befinden sich die größten indischen Auslandsinvestitionen im Öl- und Gassektor in Russland.
Gerade der Westen beobachtet diese indisch-russische Freundschaft mit Skepsis. Denn Indien, als größte Demokratie der Welt, sollte eigentlich ein wichtiger Verbündeter der USA im indopazifischen Raum sein. Die Zurückhaltung Indiens im Ukraine-Krieg dämpft diese Hoffnung. Die US-Administration von Präsident Joe Biden erwog schon seit einiger Zeit erweiterte Sanktionen gegen Indien, als Antwort auf deren neuesten Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400.[9]
Indien dürfte in Zukunft mehr Erdgas- und Erdöllieferungen von Russland beziehen, ohne sich dabei aber in die prekären Ost-West-Spannungen infolge des Ukraine-Konflikts hineinziehen zu lassen. Westliche Sanktionen gegen Russland mitzutragen schloss Indien dementsprechend dezitiert aus.
Abgeschlossen: Anfang Juli 2022
Anmerkungen:
[1] Siehe dazu etwa: Manasi Pritam, EXAMINING EXCEPTIONALISM IN NATIONAL SECURITY CULTURES: A COMPARATIVE STUDY OF THE UNITED STATES AND INDIA. In: India Review 3/2021, S. 295-321.
[2] Tianxing Hu, „MARINE ROTATIONAL FORCE-INDIA“. In: Marine Corps Gazette 12/2021, S. 58-61.
[3] Harsh V. Pant / Arashi Tirkey, „THE 5G QUESTION AND INDIA’S CONUNDRUM“. In: Orbis 4/2020, S. 571-588.
[4] Alexandre Vaillant, „L’INDIAN NAVAL AIR ARM: ENJEUX ET PERSPECTIVES DE L‘AÉRONAUTIQUE NAVALE INDIENNE”. In: Revue Défense Nationale 5/2020, S. 101-108.
[5] Siehe dazu: Claude Franc, „LE „GRAND JEU“ AFGHAN ENTRE RUSSES ET BRITANNIQUES“. In: Revue Défense Nationale 1/2022, S. 81-84.
[6] Shibashis Chatterjee / Udayan Das, „INDIAN FOREIGN POLICY AS PUBLIC HISTORY: GLOBALIST, PRAGMATIST AND HINDUTVA IMAGINATIONS“. In: India Review 5/2021, S. 565-588.
[7] Siehe: Kira Huju, „SAFFRONIZING DIPLOMACY: THE INDIAN FOREIGN SERVICE UNDER HINDU NATIONALIST RULE“. In: International Affairs 2/2022, S. 423-441.
[8] Indien fürchtet eine Achse China-Russland-Pakistan. In: FAZ-Online v. 7.3.2022: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ukraine-konflikt-indien-fuerchtet-die-achse-china-russland-pakistan-17856105.html
[9] Indien: Ein Verlierer des Krieges in der Ukraine? In: SWP-Online v. 9.3.2022: https://www.swp-berlin.org/publikation/indien-ein-verlierer-des-krieges-in-der-ukraine