UKRAINE
Update Anfang März 2020
Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski sind im Berichtszeitraum trotz erheblicher Widerstände in der eigenen Bevölkerung doch erkennbare Fortschritte im Verhältnis seines Landes zu Putins Russland gelungen. Dennoch bleibt abzuwarten, wie der Prozess der Annäherung zwischen Kiew und Moskau vorankommt.
Je mehr die Gräben zwischen den führenden europäischen Mächten wie Frankreich und Deutschland und den USA unter Präsident Donald Trump breiter werden, desto stärker ausgeprägt ist die mehr oder weniger offen gezeigte Wiederannäherung der Europäer an Russland. Unabhängig davon könnte auch Trump irgendwann im Rahmen eines nicht ganz ausgeschlossenen außenpolitischen „Schwenks“ zu einem umfangreichen „Ausgleich“ mit Putin bereit sein, bei dem die Interessen Kiews und damit Selenskis untergraben werden könnten.
Selenski im deutschen Kanzleramt von Merkel empfangen
Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin am 18. Juni 2019 warfen die deutsche Gastgeberin, Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski Russland vor, sich „rechtswidrig“ gegenüber dem Nachbarland zu verhalten. Solange bei der Wiederherstellung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine keine Fortschritte erzielt würden, könnten „die Sanktionen nicht aufgehoben werden“, so Merkel. „Auf der anderen Seite wissen wir, dass wir ohne Gespräche und ohne Kontakte die Probleme auch nicht aus der Welt ausräumen können“, meinte die Kanzlerin. Merkel hatte den ukrainischen Staatschef zuvor mit militärischen Ehren im Kanzleramt empfangen.
Auch der neue ukrainische Präsident strebt eine Mitgliedschaft seines Landes in der NATO und der EU an. Beide westlichen Institutionen bleiben diesbezüglich zurückhaltend, um Moskau nicht allzu sehr vor den Kopf zu stoßen.
US-Militärhilfe für ukrainische Streitkräfte
Währenddessen kündigte Washington ein Hilfspaket für das ukrainische Militär in Höhe von 250 Millionen Dollar (222,54 Mio. Euro) an. Die USA fühlten sich weiterhin verpflichtet, der Ukraine bei der Reform ihrer Streitkräfte zu helfen, erklärte ein Pentagon-Sprecher am 18. Juni. „Diese Reformen werden die Fähigkeit der Ukraine stärken, ihre territoriale Integrität zu schützen“, hieß es.
Die angekündigte Militärhilfe ist Teil einer Reihe von Zahlungen des US-Verteidigungsministeriums seit 2014, die sich inzwischen auf 1,5 Milliarden Dollar
(1,34 Mrd. Euro) belaufen. Das Jahr markiert die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland und den Beginn des Ostukraine-Konflikts. In dem von Moskau unterstützten Kampf prorussischer Einheiten gegen die Zentralregierung in Kiew starben in den vergangenen fünf Jahren rund 13.000 Menschen.
Selenski bietet Putin Gespräche an
Der neue ukrainische Präsident bot am 8. Juli dem russischen Staatschef Wladimir Putin ein Treffen an. In einer Videobotschaft an Putin sagte Selenski: „Müssen wir reden? Ja, das müssen wir. Lasst es uns angehen.“ Selenski schlug vor, über die 2014 von Russland annektierte ukrainische Halbinsel Krim sowie den Konflikt in der Ostukraine zu sprechen, wo ukrainische Truppen gegen prorussische Separatisten kämpfen.
Bei den Gesprächen mit Putin wolle Selenski US-Präsident Donald Trump, die britische Premierministerin Theresa May, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und den französischen Präsidenten Emmanuel Macron dabei haben, meinte Selenski.
Ein Sprecher des Kreml gab an, den Vorschlag vorerst nicht kommentieren zu wollen. Es handle sich um ein „völlig neues Format“.
Schließlich telefonierten Selenski und Putin am 11. Juli erstmals miteinander, wobei es vor allem auch um die Lage in der Ostukraine ging, wo es immer wieder zu blutigen Gefechten auf beiden Seiten kommt.
Am 12. Juli trat dann erstmalig in Paris die sogenannte „Normandie-Runde“, ein Beratertreffen zwischen Russland, der Ukraine, Frankreich und Deutschland, zusammen, um über eine Lösung des Ukraine-Konflikts zu diskutieren. Konkret wurden Siedlungsfragen im Konfliktgebiet der Ukraine und die Rückkehr der Bewohner erörtert.
Die Konfliktparteien in der Ostukraine vereinbarten unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am 17. Juli eine neue unbefristete Waffenruhe.
Absolute Mehrheit für Selenski-Partei bei Parlamentswahlen
Bei der Parlamentswahl in der krisengeschüttelten Ukraine wurde die Partei des ukrainischen Präsidenten (die prowestliche Partei „Diener des Volkes“ - „Sluha narodu“) am 21. Juli die stärkste politische Kraft. Laut Angaben der Partei konnte sie dank Direktmandaten die absolute Mehrheit erringen.
Konflikt um russischen Tanker
Kurz nach der Festsetzung eines russischen Tankers in einem ukrainischen Schwarzmeer-Hafen erklärte ein ukrainisches Gericht in Odessa das Schiff offiziell für beschlagnahmt.
Dabei entschied das Gericht im Süden der Ukraine, dass die „Nika Spirit“ wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung an einem Zwischenfall vor der von Russland annektierten Halbinsel Krim Ende 2018 beschlagnahmt wurde.
Russland drohte umgehend mit Konsequenzen. Die zehn russischen Besatzungsmitglieder durften ohne Anklage aus der Ukraine ausreisen.
Nach der Absage einer offfiziellen Militärparade durch den ukrainischen Präsidenten nahmen am 24. August in der Hauptstadt Kiew rund 20.000 Menschen an einem inoffiziellen Marsch anlässlich des ukrainischen Unabhängigkeitstags teil. Selenski hatte die Parade abgesagt und angekündigt, das dadurch gesparte Geld in Sonderprämien für Soldaten zu investieren. Soldaten und Veteranen des Krieges in der Ostukraine organisierten daraufhin selbst einen Marsch.
Selenski hatte im Wahlkampf versprochen, den Krieg in der Ostukraine zu beenden. Seit dem Ausbruch des Konflikts zwischen ukrainischen Truppen und von Russland unterstützten Separatisten im Frühjahr 2014 wurden bereits mehr als 13.000 Menschen getötet.
Selenski sieht in „Nord Stream 2“ eine russische „Bedrohung“ für Europa
Der ukrainische Präsident Selenski bezeichnete bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda am 31. August in Warschau die umstrittene Gaspipeline „Nord Stream 2“, an deren Finanzierung auch die österreichische OMV beteiligt ist, als „Bedrohung“ für Europa. „Wir haben dieselbe Position wie Polen: Die ‚Nord Stream 2‘ ist inakzeptabel und bedroht Europa als Ganzes“, so Selenski.
Unterdessen gingen Polen, die Ukraine und die USA ein Abkommen über die verstärkte Zusammenarbeit im Energiebereich ein. In dem Deal geht es vor allem darum, die Ukraine stärker an die Energiezufuhr aus dem Westen heranzuführen. Seit der russischen Annexion der Halbinsel Krim 2014 sucht Kiew nach Wegen, um von russischen Gaslieferungen unabhängiger zu werden.
Gefangenenaustausch zwischen Kiew und Moskau
Russland und die Ukraine unternahmen am 7. September einen lange verhandelten Gefangenenaustausch. Je 35 Gefangene wurden ausgetauscht, darunter auch der ukrainische Regisseur Oleg Senzow. Der Austausch ging zurück auf die Initiative des neuen ukrainischen Präsidenten Selenski, der damit einen ersten diplomatischen Coup verzeichnen konnte.
Für die russische Seite wurde etwa der in der Ukraine festgehaltene Wladimir Zemach freigelassen. Er soll für die Luftabwehr der prorussischen Separatisten in Donezk zuständig und am Abschuss der Passagiermaschine des Flugs MH17 über der Ostukraine beteiligt gewesen sein.
Der russische Präsident Putin hatte zuvor bestätigt, dass der Gefangenenaustausch „ein großer Schritt hin zur Normalisierung“ der Beziehungen sei.
Im Ringen um Frieden im Kriegsgebiet in der Ostukraine erreichten die Konfliktparteien am 1. Oktober 2019 eine wichtige Einigung. Vertreter der ukrainischen Regierung und der prorussischen Separatisten in Luhansk und Donezk unterzeichneten demnach eine Vereinbarung über einen Sonderstatus der umkämpften Regionen.
In den Gesprächen zur Lösung des Ukraine-Konflikts geht es auch um die sogenannte „Steinmeier-Formel“, die nach dem früheren deutschen Außenminister und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier benannt ist. Die Formel sieht für die Gebiete im Osten der Ukraine einen Sonderstatus vor, sobald dort Kommunalwahlen nach den Standards der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) abgehalten wurden.
Für Selenski sei damit keine „rote Linie“ überschritten worden. Dennoch gingen am 6. Oktober in Kiew 10.000 Menschen gegen den Ostukraine-Plan der ukrainischen Regierung auf die Straße.
Grünes Licht Washingtons für Javelin-Lenkwaffen an die Ukraine
Die US-Regierung stimmte am 3. Oktober dem Verkauf von 150 modernen Panzerabwehrwaffen des Typs Javelin an die Ukraine zu. Zu dem Paket für
39,2 Millionen Dollar gehören unter anderem auch zehn Kontroll- und Starteinheiten, Trainingsmaterialien und Serviceleistungen.
Das von den Herstellern Raytheon und Lockheed Martin produzierte Lenkwaffensystem kann aus großer Entfernung gegen Panzer, gepanzerte Fahrzeuge oder Bunker eingesetzt werden. Der ukrainische Präsident Selenski hatte Ende Juli in einem Gespräch mit US-Präsident Donald Trump darum gebeten.
Die Zustimmung zu dem Waffenverkauf erfolgte nun fast zwei Wochen nach dem Bekanntwerden der sogenannten „Ukraineaffäre“ in Washington. Die Demokraten werfen dem republikanischen Präsidenten Trump weiterhin vor, Selenski in dem Telefonat Ende Juli unter Druck gesetzt zu haben, um Ermittlungen zu erwirken, die seinem Rivalen Joe Biden schaden würden. Trump soll das Zurückhalten von Militärhilfen als Druckmittel eingesetzt haben.
Die Demokraten im Repräsentantenhaus hatten deswegen Untersuchungen für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump begonnen. Dieser wies die Vorwürfe als absurd zurück.
Kiew zieht Truppen von Front in Ostukraine ab
Die ukrainische Armee gab am 29. Oktober den Beginn des Abzugs von Regierungstruppen und von Einheiten der prorussischen Rebellen aus einem Schlüsselsektor an der Frontlinie in der östlichen Region Luhansk bekannt. Dabei sollen sowohl Einheiten der ukrainischen Streitkräfte als auch die pro-russischen Aufständischen ihre Soldaten einschließlich Waffen um mindestens einen Kilometer zurückziehen.
Mit der Entmilitarisierung soll der festgefahrene Friedensprozess des seit 2014 andauernden Konflikts aktiviert und ein Gipfeltreffen im Normandie-Format (Russland, Frankreich, Deutschland, Ukraine) ermöglicht werden. Mittelfristig sollen Wahlen in der Ostukraine abgehalten werden - unter welchen Bedingungen diese stattfinden sollen, bleibt offen.
In der ukrainischen Öffentlichkeit kam diese Friedensgeste Selenskis gegenüber Russland nicht gut an. Immer wieder wurde in Großdemonstrationen ein Ende dieser Politik skandiert.
Selenski wollte damit signalisieren, dass er die Vereinbarungen einhalte. Zeigen wollte er das vor allem Moskau, an dem für einen Frieden im Donbass kein Weg vorbeiführt. Der russische Präsident stellte sich seit der Wahl Selenskis auf den Standpunkt, dieser müsse erst einmal seinen Friedenswillen unter Beweis stellen, bevor es zu einem Treffen im Kreml kommen könne. Formal hält Moskau an der Erfüllung des Minsker Abkommens fest. Immer wieder neue Vorbedingungen stellte Moskau für einen Gipfel im Normandie-Format. Und nach einigem Zögern war Selenski bisher immer darauf eingegangen.
Als Zeichen der weiteren Deeskalation gab Russland der Ukraine schließlich drei vor einem Jahr beschlagnahmte Kriegsschiffe zurück. Die 2018 bei einem Zwischenfall in der Meerenge von Kertsch festgesetzten Boote verließen deshalb einen Hafen der Halbinsel Krim für die Übergabe in neutralen Gewässern des Schwarzen Meeres.
Treffen Selenski-Putin unter deutsch-französischer Schirmherrschaft
Bei einem ersten Gipfeltreffen des ukrainischen und russischen Präsidenten im Beisein des französischen Amtskollegen Emanuel Macron und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel am 9. Dezember 2019 in Paris wurde unter anderem eine vollständige Umsetzung der Waffenruhe bis Ende des Jahres vereinbart. Zudem sollen Truppen bis Ende März 2020 aus drei umstrittenen Gebieten zurückgezogen werden. Ein weiterer Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland wurde vereinbart, hieß es nach dem achtstündigen Gipfeltreffen.
Im Zuge der atmosphärischen Verbesserung des Klimas zwischen Selenski und Putin wurde am 21. Dezember der jahrelange Rechtsstreit zwischen Moskau und Kiew um den Gastransit beigelegt. Russland und die Ukraine hatten eine neue Vereinbarung zum Gastransit besiegelt, da das bestehende Abkommen Ende 2019 auslief.
Ukrainisches Passagierflugzeug von iranischer Luftabwehr versehentlich abgeschossen
Inmitten erhöhter Spannungen zwischen den USA und dem Iran nach dem gezielten tödlichen US-Luftschlag auf den iranischen General Kassem Soleimani, Chef der iranischen Al-Kuds-Einheit, einer Division der iranischen Revolutionsgarden, am Flughafen von Bagdad und wiederholter iranischer Attacken auf US-Stützpunkte im Irak und in Syrien, schoss die iranische Luftabwehr am 8. Jänner 2020 „versehentlich“ ein ukrainisches Passagierflugzeug mit 176 Menschen nahe Teheran ab. Niemand überlebte das Unglück.
Nach tagelangen Dementis gestand schließlich die iranische Führung den „Fehler“ ein. Die Streitkräfte entschuldigten sich bei den Familien der Opfer. Der iranische Präsident Hassan Rouhani schrieb auf Twitter, sein Land bedaure den Abschuss „zutiefst“.
Selenski forderte ein volles Schuldeingeständnis und eine offizielle Entschuldigung Teherans. Zudem sollten die sterblichen Überreste der Todesopfer in ihre Heimatländer überstellt werden.
Abgeschlossen: Anfang März 2020
Weiterführende LINKS:
Ukraine - The International Institute for Strategic Studies
Fear of war in Ukraine - Power struggle for the Sea of Asov | DW Documentary
Ukraine Is Not the Only Battlefield Between Russia and the West – Carnegy Europe
Russia and the Separatists in Eastern Ukraine | Crisis Group
Ukraine-Konflikt: Vom Maidan zum Krieg | ZEIT ONLINE - Die Zeit
Ukraine-Krise aktuell: News der FAZ zum Ukraine-Konflikt
Krise um die Ukraine - SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik
Ukraine's Armed Forces Five Years into Conflict with Russia - CSIS
Jüngste Spannungen zwischen der Ukraine und Russland
Seit dem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen vom April 2019 sieht sich das neu gewählte Staatsoberhaupt der Ukraine, Wolodimir Selenski, großen Herausforderungen angesichts neuem politischem Drucks aus Moskau gegenüber. Damit scheint ein Neuanfang in den bilateralen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland kaum möglich zu sein.
Der russische Präsident Wladimir Putin verteidigte am 28. April nicht nur die bereits rechtskräftige Entscheidung, den Bewohnern der von Russland unterstützten pro-russischen „Volksrepubliken“ im Donbass die erleichterte Einbürgerung zu gewähren. Er zog auch in Erwägung, diese eigentlich mit einer „humanitären Notlage“ begründete Möglichkeit für alle Ukrainer zu öffnen. - Bei der Passvergabe handelt es sich für viele Experten um einen „direkten Angriff auf die ukrainische Souveränität“. Wer die Einbürgerung von Bürgern eines Nachbarlands organisiert, bekräftigt damit, dass er dessen Staatlichkeit nicht ernst nimmt.
Parallelen zum Vorgehen Moskaus im Georgien-Konflikt vor rund zehn Jahren sind dabei offensichtlich: Dort hatte der Kreml den abtrünnigen Abchasiern und Südosseten in einem ersten Schritt ebenfalls russische Pässe verteilt, bevor es dann 2008 in einer Militärintervention den dortigen „Landsleuten“ zu Hilfe eilte und ihre Abspaltung von Georgien anerkannte. Ein noch eindringlicheres Beispiel dieser Kreml-Strategie liegt schon etwas länger zurück: Stalins Angriff auf Polen zu Beginn des II. Weltkriegs, bei dem der „Schutz“ der dortigen ostslawischen Minderheiten zum Vorwand genommen wurde.
Selenski antwortete Putin postwendend auf Facebook und zeigte jene Schlagfertigkeit, die den gelernten Schauspieler und Komiker auszeichnet. Er wies auf die Risiken hin, die der Kreml mit der Abgabe von Pässen eingehe. Vor allem aber wüssten die Ukrainer die Freiheit des Wortes, freie Medien und ein freies Internet zu schätzen. Der russische Pass dagegen bedeute das „Recht, für friedlichen Protest festgenommen zu werden; das Recht, keine freien Wahlen zu haben; das Recht, überhaupt Rechte und Freiheiten zu vergessen“. Deshalb dürften kaum viele Ukrainer danach streben.
Selenski hob die Bedeutung der Freiheit für die Ukrainer hervor und versprach, auch künftig bleibe es die Mission der Ukraine, ein demokratisches Vorbild für die postsowjetischen Staaten zu sein und jenen Schutz, Asyl und die Staatsbürgerschaft zu geben, die bereit seien, für diese Freiheit zu kämpfen. Es gehöre sich nicht, mit den Ukrainern in Drohungen, mit militärischem und wirtschaftlichem Druck zu sprechen. Er sei zu Gesprächen und zur Ausarbeitung neuer Grundlagen des Zusammenlebens der beiden Nationen bereit – eine vollständige Normalisierung werde es aber nur beim Ende der Besetzung der Ostukraine und bei der Rückgabe der Krim geben.
Aus der Sicht Moskaus sei die Ukraine seit dem Maidan 2014 ein „failed state“; ein Staatswesen, das nicht nur in der Ostukraine gegen seine eigene Bevölkerung kämpft und diese gewissermassen unter den Schutzschirm der selbstproklamierten „Volksrepubliken“ gezwungen hat, sondern auch im Rest des Landes den Einwohnern nur ein vages Dasein in einem „nationalistischen Oligarchenstaat“ zumutet. Auch die Sprachenfrage ist zentral – es wird suggeriert, Russisch zu sprechen, sei verboten.
Im Streit mit der Ukraine über die Pass-Regelung legte Russlands Staatschef weiter nach und schlug eine „gemeinsame Staatsbürgerschaft“ Russlands und der Ukraine vor. „Wenn man in der Ukraine anfängt, Pässe an Russen zu verteilen, und wir in Russland an die Ukrainer ausstellen, gelangen wir früher oder später zum erwartbaren Ergebnis: Alle werden dieselbe Staatsbürgerschaft haben. Das müsste begrüßt werden“, so Putin.
Aus Putins Sicht seien Russen und Ukrainer „Brudervölker“. „Ich denke, in Wirklichkeit stellen sie ein und dasselbe Volk mit kulturellen, sprachlichen und historischen Eigenheiten dar.“ Nach seinen Äußerungen verabschiedete Putin sich auf Ukrainisch.
Aus der Sicht des Westens und Kiews hat Russland im Zuge der Ukraine-Krise 2014 und der anschließenden Annexion der Krim durch Moskau einen Bruch des Völkerrechts begangen. Mit der mehr oder weniger verdeckten Unterstützung der pro-russischen Rebellen im ostukrainischen Donbass-Gebiet und der russisch-ukrainischen Spannungen rund um das freie Durchfahrtsrecht durch die Meerenge von Kertsch vor der Halbinsel Krim sucht der russische Präsident offensichtlich nach Wegen, um den Einfluss Moskaus in der Region weiter zu erhöhen. Speziell in der Ostukraine und auf der Krim wendete Russland eine „hybride Kriegsführung“[1] an.
Unter hybrider Kriegsführung wie sie Russland im Donbass-Gebiet in der Ostukraine zur Unterstützung der pro-russischen Rebellen und schließlich zur Annexion der Krim lancierte, wird eine militärisch-zivile Strategie unterhalb der Schwelle zu einem „heißen“ Krieg mit konventionellen Mitteln verstanden. Dabei werden mehr oder weniger verdeckte symmetrische und asymmetrische Werkzeuge eingesetzt, um ohne allzu große in Stellung gebrachte, eigene Kapazitäten dennoch größtmögliche Wirkung zu erzielen, damit am Ende das anvisierte Ziel auch erreicht wird. Guerillagruppen suchen ihre Absichten mit Hilfe von Terroranschlägen im Krisengebiet zu unterstreichen, um in Staat und Gesellschaft ein möglichst großes Maß an Chaos und Instabilität zu erzeugen. Dabei verwischt oftmals die Trennung zwischen „Legalität“ und „Kriminalität“. Komplettiert werden hybride Angriffstaktiken durch Cyberattacken möglichst auf sensible Einrichtungen des Staates und der Wirtschaft, um größtmöglichen Schaden anzurichten.[2]
Viele Russen streiten die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Nation ab. Allenfalls der Westukraine, die historisch unter polnischer und später habsburgischer Herrschaft stand, wird ein gewisses Recht auf eine eigene kulturelle Ausprägung zugestanden. Den Rest des Landes erachten sie als jenes „Kleinrussland“ des russischen Zarenreichs. Aber gerade die enge gemeinsame Geschichte hat auch zu einer scharfen Abgrenzung geführt.
Für den Kreml gilt Selenski als weit weniger berechenbar und hat auch eine innenpolitische Funktion in Russland inne. Er hält indirekt der russischen Opposition den Spiegel vor und bietet unzufriedenen Russen eine politische Projektionsfläche.
„Brüderlich können solche Beziehungen überhaupt nicht genannt werden“
Selenski kritisierte Putins Äußerungen bezüglich der Ukraine scharf und gab allen Hoffnungen auf eine baldige Annäherung seines Landes an Russland einen Dämpfer. „Die Realität ist derart, dass heute nach der Annexion der Krim und der Aggression im Donbass vom Gemeinsamen nur eines blieb: die Staatsgrenze“, betonte er. Moskau müsse zuerst die Kontrolle über die Grenze vollständig an Kiew zurückgeben, bevor wieder „Gemeinsames“ gesucht werden könne. Das kürzlich verhängte Exportverbot für Erdölprodukte, die Ausgabe russischer Pässe an Ukrainer sowie Landsleute in russischer Haft seien weitere unfreundliche Schritte des russischen Nachbarn gewesen. „Brüderlich können solche Beziehungen überhaupt nicht genannt werden“, so Selenski.
Der schwierige Prozess der Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte
Die 1991 aus den Versatzstücken der ehemaligen UdSSR hervorgegangene Ukraine besaß damals die viertgrößte Armee in Europa mit einem erheblichen Anteil an Atomwaffen. Danach setzte ein dramatischer Schrumpfungsprozess ein, der das Land vor allem gegenüber möglicher russischer Aggression äußerst verwundbar machte. Erst nach und nach gelang der Umbau der ukrainischen Streitkräfte auf ein akzeptables Niveau. Bis Mitte der 1990er-Jahre hatte Kiew seine nuklearen Kapazitäten völlig abgebaut. Die Ukraine erklärte sich 1990 in ihrer Unabhängigkeitserklärung als neutraler und blockfreier Staat, der keine Atomwaffen mehr besitzen, produzieren oder kaufen werde.
2005 lag die Zahl die Truppen des Landes bei 245.000 Mann (militärisches wie ziviles Personal).
Im Zuge der Orangenen Revolution von 2005 entschied die neue Regierung in Kiew, das Land näher an die NATO heranzuführen. Doch die globale Finanzkrise von 2008/2009 verhinderte ein erhöhtes Rüstungsbudget. Im Gegenteil, es mussten signifikante Kürzungen hingenommen werden. Die Wahl des prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch brachte ein Umdenken in Sachen NATO-Annäherung. Die neue ukrainische Militärdoktrin und Nationale Sicherheitsdoktrin von 2012 bestätigte einmal mehr den neutralen Status des Landes und den Verzicht auf eine mögliche NATO-Mitgliedschaft. 2013 waren die ukrainischen Streitkräfte dann gar auf einen Personalstand von 165.500 (einschließlich von 120.900 Soldaten) geschrumpft. Rund 82,1% der vorhandenen Gelder für die Verteidigung wurden zur Unterstützung der Aktivitäten der Streitkräfte ausgegeben. Nur 10,2% konnten für neue Rüstungsgüter und Ausrüstung verwendet werden.
Das ukrainische Militär ist bislang weiterhin unterfinanziert – begleitet von einer ganzen Reihe von Missständen wie hoher Korruption, schlechtes Management und anderen Skandalen. In dieser unbequemen Situation konnte die Ukraine die militärische Intervention auf der Krim und im Donbass-Gebiet nicht abwenden.
2015 wurden von der ukrainischen Regierung umfangreiche strukturelle Reformen im Wehrsektor eingeleitet – mit dem Ziel einer Annäherung an die NATO-Standards bis 2020. Russland wird dezidiert als Gegner angesehen.
Mit Ende 2017 lag der Personalstand bei 250.000 Beschäftigten in den Streitkräften (204.000 Soldaten und 46.000 Zivilisten). Die Regierung stellte dabei rund 2,8 Milliarden US-Dollar für den Verteidigungsbereich bereit. Das sind rund 2,5% des Bruttoinlandsprodukts der Ukraine.[3]
Trotzdem bleibt die finanzielle Lage der Streitkräfte angespannt. Während die Armee im Jahr nur wenige Rüstungsgüter von heimischen Rüstungswerken und vom Ausland kaufen kann, besteht zumindest die Möglichkeit, die vorhandenen militärischen Kapazitäten aus der Sowjetära schrittweise zu modernisieren, betont der Autor. Wichtige Rüstungspartner sind heute die USA, die 2018 unter anderem Panzerabwehrraketen des Typs JAVELIN an Kiew geliefert haben. Auch die Türkei scheint mittlerweile ein immer wichtiger Exporteur von Rüstungsgütern für die Ukraine zu werden.
Um mehr Geld für die heimische Wirtschaft zu generieren, exportierte die Ukraine 2011 unter anderem 49 T-84 OPLOT Kampfpanzer (als ukrainische Weiterentwicklung des sowjetischen T-80 Kampfpanzers) an Thailand.
Letztlich muss die Ukraine die heimische Wirtschaft weiter ankurbeln, um die benötigten Spielräume zur Modernisierung der eigenen Streitkräfte zu erhalten.
Russland in der Pflicht
Die Entwicklung des Ukraine-Konflikts seit 2014 widerspiegelt die Fragilität des internationalen Sicherheitssystems und seine Unfähigkeit, die Souveränität kleiner oder schwacher Staaten zu wahren. Durch die Generierung und Manipulierung von Konflikten erlangt Russland in solchen Ländern Einfluss über die politische und ökonomische Entwicklung, über die Verwaltung und schließlich über die externen Allianzen der betreffenden Nationen. Infolge der Untergrabung der Souveränität kleiner Staaten und der gewaltsamen Veränderung ihrer Grenzen im Rahmen hybrider Strategien fordert Russland die existierende internationale Ordnung und die grundlegenden Prinzipien der Schlussakte der Helsinki-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 heraus, wobei die frühere UdSSR und die Russische Föderation als Nachfolgestaat zu den Signatarmächten gehören. Es ist im Interesse der globalen Sicherheit nun wichtig, Russland wieder in die Strukturen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) einzubinden, wobei die Souveränität aller Mitgliedsländer außer Frage stehen müsse.
Der Internationale Seegerichtshof forderte Russland am 25. Mai 2019 dazu auf, die im November 2018 verhafteten 24 ukrainischen Seeleute sofort freizulassen. In dem Urteil des Gerichts in Hamburg hieß es, die Inhaftierten sollten in die Ukraine zurückkehren dürfen. Das Urteil ist jedoch problematisch, weil Moskau das Verfahren in Hamburg boykottiert. Russland ist der Ansicht, dass nur ein heimisches Gericht über den Fall entscheiden solle.
Die russische Marine hatte am 25. November 2018 in der Straße von Kertsch im Asowschen Meer ukrainische Küstenschutzboote aufgebracht und die Besatzungen verhaftet. Russland beansprucht diesen Abschnitt des Schwarzen Meeres seit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim als nationales Gewässer.
Die Ukraine und westliche Staaten werfen der russischen Regierung dagegen vor, die Schiffe in internationalen Gewässer aufgebracht zu haben und de facto eine Blockade des ostukrainischen Hafens Mariupol durchsetzen zu wollen.
Nach wieder aufgeflammten blutigen Kämpfen in der Ostukraine reagierte der neue ukrainische Präsident Selenski an 7. Juni 2019 umgehend. „Wer auch immer den Befehl gab, die Streitkräfte der Ukraine werden hart und der Situation entsprechend antworten“, sagte er.
Abgeschlossen: 14. Juni 2019
Weiterführende LINKS:
Ukraine - The International Institute for Strategic Studies
Ukraine Is Not the Only Battlefield Between Russia and the West – Carnegy Europe
Russia and the Separatists in Eastern Ukraine | Crisis Group
Ukraine-Konflikt: Vom Maidan zum Krieg | ZEIT ONLINE - Die Zeit
Ukraine-Krise aktuell: News der FAZ zum Ukraine-Konflikt
Krise um die Ukraine - SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik
Ukraine's Armed Forces Five Years into Conflict with Russia - CSIS
Anmerkungen:
[1] Felix Wassermann, „The Blurring of Interstate Wars, Civil Wars, and Peace“. In: S+F – Sicherheit und Frieden 1/2018, Seite 14-20.
[2] Siegfried Lautsch, „Der hybride Krieg – Eine neue Qualität komplexer Kriegführung und multinationaler Bedrohung?“ In: ÖMZ 6/2018, Seite 726-738.
[3] Denys Kolesnyk, „Arming the Ukraine“. In: European Security & Defence 6/2018, Seite 103-106.