KANADAS AUSSEN- UND SICHERHEITSPOLITIK UNTER PREMIERMINISTER JUSTIN TRUDEAU
Kurzer geschichtlicher Überblick
1867 traten die mit dem Mutterland ausgehandelte British North America-Gesetze in Kraft und ließen eine neue Nation am nordamerikanischen Kontinent entstehen: Kanada, ein weitgehend souveränes Dominion innerhalb des britischen Königreichs mit der Queen als fernem Staatsoberhaupt.
Als Mitglied des British Commonwealth nahm Kanada dann am I. Weltkrieg teil. Tausende Kanadier ließen für „King and Country“ auf den Kampfschauplätzen von Flandern ihr Leben. Auch im II. Weltkrieg engagierte sich Kanada an der Seite der Alliierten.
Mit dem Status von Westminster 1931 wurde Kanada (zusammen mit anderen Commonwealth-Mitgliedern) die vollständige gesetzgeberische Unabhängigkeit zuerkannt. Von nun an war es ausschließlich das kanadische Parlament in Ottawa, das die Innen- und Außenpolitik des Landes bestimmte. Es dauerte aber noch bis zur Canada Act 1982, bis dem kanadischen Parlament auch das Recht zu Verfassungsänderungen gegeben wurde.
Mit der Constitution Act von 1982 unter dem damaligen liberalen Premierminister Pierre Trudeau wurden die Grundkonstanten für ein immer multikultureller werdendes Einwandererland Kanada festgelegt. Parallel dazu verstärkte sich damals die offenkundige Distanzierung zum großen Nachbarn USA. Als Gegner des Vietnamkriegs und Verfechter guter Beziehungen zu Kuba brüskierte er Washington. Unter Trudeaus Sohn, Justin (dem gegenwärtigen Premierminister Kanadas) wird dieser außenpolitische Kurs wiederbelebt, nachdem zuvor in der Ära seines konservativen Amtsvorgängers Stephen Harper (2006-2015) eine verstärkte Anlehnung an die Weltmacht USA verfolgt wurde. Harper hatte während seiner Amtszeit manche Positionen allmählich verändert, die bislang als typisch „kanadisch“ galten: kritische Distanz zu Washington; eine multipolare Außenpolitik der Guten Dienste mit den eigenen Streitkräften, die eher als Blauhelme denn als Kampftruppen verstanden wurden.
Unter Premierminister Justin Trudeau scheinen diese „kanadischen Werte“ einer multipolaren Außen- und Sicherheitspolitik wieder in den Vordergrund zu rücken. Die derzeitige kanadische Außenministerin Chrystia Freeland pochte in ihrer Grundsatzrede im Parlament von Ottawa auf die Durchführung eines „klaren und souveränen Kurses“ ihres Landes und warnte davor, die eigene militärische Sicherheit allzu sehr in die Hände Washingtons zu legen: „Sich nur auf den amerikanischen Schutzschirm zu verlassen, würde uns zu einem Satellitenstaat machen“, so Freeland.[1] – Ein mutiger Ansatz, der aber den realpolitischen Verpflichtungen und Abhängigkeiten Kanadas nicht ganz standhalten kann.
Die Regierung Trudeau zwischen liberal-internationalistischen Bestrebungen und realpolitischen Befangenheiten
Die kanadische Regierung von Ministerpräsident Justin Trudeau verkündete gleich von Amtsbeginn im November 2015 an, dass sie das liberale internationalistische Erbe, das ihrer Meinung nach im Mittelpunkt der kanadischen Interessen und Werte stehe, wieder aufgreifen werde. Ein Aspekt davon war die Verpflichtung, sich wieder deutlich in den Bereichen Friedenssicherung, Friedensschaffung und Friedensförderung zu engagieren. Doch bislang wurde davon noch relativ wenig umgesetzt. Nicht zuletzt müsse aber festhalten werden, dass auf internationaler Bühne einige Hindernisse und Hürden auftauchten, die man so nicht vorhersehen konnte. Dazu gehört auch die Entscheidung von US-Präsident Donald Trump, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen zu reformieren, das für Kanada eine wichtigere außenpolitische Priorität darstellt, als alles, was bezüglich der Reformbestrebungen Ottawas diskutiert wird.
Trotz allem versucht die kanadische Regierung, Kanadas Rolle bei der Mediation als Teil einer erneuerten liberal-internationalistischen Außenpolitik zu stärken.[2] Das bedeutet, sich mit der Frage zu befassen, wie man mit den innenpolitischen Konsequenzen umgeht, die sich ergeben, wenn man sich als Vermittler mit denjenigen in Verbindung setzt, die gegen die gehegten internationalen Normen verstoßen, obwohl diese eigentlich strafrechtlich verfolgt werden sollten. Der Schlüssel zu all dem stellt das Konzept der Unparteilichkeit dar, insbesondere im Hinblick auf die Ziele der liberal-internationalistisch ausgerichteten Länder.
Die sogenannte „Track Two“-Diplomatie bei der Entwicklung einer nationalen Kapazität für internationale Mediation scheint dabei ein nützliches Instrument zu sein. Schließlich sollte auch daran gearbeitet werden, Track Two - das derzeit weitgehend auf westlichen Konzepten basiert - jeweils stärker angepasst an die Zielregion zu gestalten. Die Unterstützung für eine solche Track Two-Diplomatie beantwortet jedoch nicht die grundlegende Frage, wie sich Kanada aktiver als Vermittler einbringen könne, wenn es nicht bereit ist, mit Akteuren zusammenzuarbeiten, die in ihrer Heimat Gewalttaten begangen haben.
Es wird sich erst noch zeigen, wie die Regierung Trudeau in einer möglichen zweiten Amtszeit aus diesem Dilemma herausfinden wird.
Kanadas Engagement in Afghanistan im Zuge der militärischen Invasion der USA 2001, die schließlich zum Sturz des Taliban-Regimes in Kabul führte, hatte sich als die bedeutendste politisch-militärische Beteiligung Ottawas seit dem Koreakrieg – mit allen Licht- und Schattenseiten – herausgestellt.[3] Kanadas ursprüngliches militärisches Engagement (2001–2005) folgte demnach anfangs eher der realpolitischen Logik der „begrenzten Verantwortung“. Die anschließende Ausweitung der Kandahar-Mission (2009-2011) war hingegen nicht mehr mit der Logik der „begrenzten Verantwortung“ zu erklären. Es war, wie manche Experten gemeint haben, eine Art „vorwärtsverlagerte“ Sicherheitsstrategie Kanadas, auch wenn laut Kritikern damit Kanada zu Hause nicht wirklich „sicherer“ geworden sei und zudem die kanadischen Streitkräfte an die Grenzen der Leistungskapazitäten vor Ort gekommen waren. Letztlich handelte es sich um ein militärisches Engagement auf der Suche nach mehr internationalem Prestige.[4] Auffallend war auch, dass Kanada rund 10 Prozent der Luftschläge der NATO im Libyen-Krieg 2011 durchgeführt hatte.[5]
Angesichts der russischen Aggression im Ukraine-Konflikt infolge der Annexion der Krim durch Moskau und der Ungewissheit im Bündnis über das anhaltende Engagement der USA unter einem unberechenbaren Präsidenten Donald Trump, hat die Stärkung der NATO für Kanada oberste Priorität. (In diesem Zusammenhang müsse auch Kanadas territoriale Machtansprüche auf Teile des Atlantiks und der Arktis gesehen werden[6].
Kurz vor dem NATO-Gipfel im Juli 2018 bekräftigte Premierminister Justin Trudeau das Engagement Kanadas für die verstärkte Vorwärtspräsenz als Rahmennation für Lettland für vier Jahre und erhöhte den Beitrag Kanadas zur alliierten Kampfgruppe (allied battlegroup).
Diese Entscheidung spiegelt sowohl den unmittelbaren kollektiven Verteidigungsbedarf der verstärkten Vorwärtspräsenz in Lettland wider als auch das Ausmaß, in dem das existenzielle Schicksal des wichtigsten Verteidigungsgutes Kanadas in der Schwebe ist: das NATO-Bündnis, die Rolle Kanadas in ihm und die Zukunft der kanadischen Verteidigungspolitik.
In einem sich verändernden und zunehmend spannungsgeladeneren Sicherheitsumfeld braucht Kanada die NATO, um stark, einsatzbereit und fähig zu sein, Interdependenzen zwischen den europäischen Staaten zu schaffen. Es geht darum, besser in der Lage zu sein, auf die Herausforderungen zu reagieren, die lokal erscheinen mögen, aber tatsächlich die gesamte regelgestützte internationale Ordnung gefährden. Die verstärkte Vorwärtspräsenz ist ein praktisches und zugleich ein symbolhafter Beweis für die Bereitschaft der NATO, sich den Herausforderungen zu stellen, als eine Maßnahme und ein Lackmustest für den kollektiven Glauben des Bündnisses an seinen dauerhaften Zweck und seine zukünftige Relevanz.[7]
Durch seine erneuerten, willkommenen Verpflichtungen in Lettland und anderswo bekundet Kanada seine Bereitschaft, diesen eingeschlagenen Weg auch in Zukunft nach bestem Wissen und Gewissen zu unterstützen.
Die Inhaftierung von zwei kanadischen Staatsbürgern durch China im Dezember 2018 - als scheinbare Vergeltung für die Verhaftung einer leitenden Führungskraft des chinesischen Technologiekonzerns Huawei infolge eines Auslieferungsersuchens der USA - schockierte viele Kanadier. Dies war aber kein isoliertes Ereignis. Einige Monate zuvor hatte ebenso Saudi-Arabien Vergeltungsmaßnahmen gegen Kanada ergriffen, nachdem Riad einen Tweet der kanadischen Außenministerin Freeland ins Visier genommen hatte, wo man das saudische Königreich mehr oder weniger direkt dazu aufrief, Menschenrechtsaktivisten aus dem Gefängnis zu entlassen. Die Saudis verwiesen den kanadischen Botschafter des Landes; suspendierten die geschäftlichen Beziehungen; zogen ihre Studenten von kanadischen Universitäten ab und ordneten angeblich die Veräußerung kanadischer Vermögenswerte an.
Damit befand sich Ottawa inmitten ernsthafter diplomatischer Spannungen mit den beiden Staaten. Diese Vorfälle sollten nicht als isolierte Ereignisse angesehen werden. Autoritäre Regime scheinen zunehmend ermutigt zu sein, gegen Länder vorzugehen, die ihnen missfallen, einschließlich der Verbündeten Amerikas. [8]
Ottawa ist es mittlerweile gelungen, erhebliche internationale Unterstützung für seine Position im Streit mit China zu gewinnen, was darauf hindeutet, dass Kanada zwar exponiert sein könnte, aber nicht dazu bestimmt ist, allein zu sein. Die kanadische Regierung sollte ihre Entschlossenheit angesichts der gegenwärtigen Schikanen Chinas aufrechterhalten und weiterhin um internationale Unterstützung für die eigenen Standpunkte werben. Ottawa müsse jedoch auch parallel dazu offene Kommunikationswege mit Peking beibehalten, um unter anderem die bilateralen Geschäftsbeziehungen und den gegenseitigen kulturellen Austausch gegenüber dem derzeitigen diplomatischen Konflikt abzuschirmen. So habe man mit einem Land umzugehen, das gleichzeitig Partner und Gegner ist.
Allerdings sind die diplomatischen Spielräume der Mittelmacht Kanada begrenzt, vor allem wenn die Spannungen zwischen Washington und Peking deutlich zunehmen. Der große Nachbar und Partner USA wird dann vermehrt die Gefolgschaft Kanadas gegenüber China einfordern. Ottawa bliebe dann nichts anderes übrig, als mitzuziehen. Kanadische Experten haben bereits erste Hinweise Washingtons, die in diese Richtung gehen, gefunden. Das neu ausgehandelte Nordamerikanische Handelsabkommen, das Ende 2018 abgeschlossen wurde, deutet darauf hin. Der Text des Abkommens enthält eine Klausel, die Kanada wirksam mit dem Ausschluss aus dem trilateralen Pakt droht, wenn Ottawa ein umfassendes Freihandelsabkommen mit einer „Nicht-Marktwirtschaft“ abschließen sollte - ein klarer Hinweis auf China. Im Übrigen war diese Klausel nicht mehr notwendig. Das immer aggressivere außenpolitische Verhalten Pekings verdunkelte bereits die kanadische Sicht auf China - und das zu Recht.
Das Navigieren durch schwieriges Terrain erfordert eine fundierte, entschlossene und geschickte strategische Positionierung Kanadas, um zwischen den eigenen Interessen und denen seiner Partner im Bündnis einen sinnvollen Ausgleich zu finden.
Abgeschlossen: 31. Juli 2019
Weiterführende LINKS:
Securing an open society : Canada's national security policy
Securing an Open Society: Canada's National Security Policy
International peace and security
Staying Ahead of Trump on Security Requires a Holistic Review of Canadian National Security
BEHIND THE HEADLINES – CANADA’S SECURITY POLICIES
Canadian Centre for Cyber Security
Better Late Than Never: An updated cyber security strategy for Canada
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu: Book Review: “The Retreat of Western Liberalism” By Edward Luce, 34 pp. Atlantic Monthly Press. In: THE NEW YORK TIMES-Online v. 25.7.2017: https://www.nytimes.com/2017/07/25/books/review/the-retreat-of-western-liberalism-edward-luce.html
[2] Peter Jones, MIDDLE POWER LIBERAL INTERNATIONALISM AND MEDIATION IN MESSY PLACES: THE CANADIAN DILEMMA. In: International Journal 1/2019, S. 119-134.
[3] Siehe dazu: Dan Fitzsimmons, „Canada, The North Atlantic Treaty Organization (NATO), and the International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan”. In: International Journal 2/2013, S. 305-313.
[4] Vgl: Caroline Leprince, “The Canadian-led Kandahar Provincial Reconstruction Team: A Success Story?” In: International Journal 2/2013, S. 359-377.
[5] Siehe etwa: Justin Massie, „Canada’s war for prestige in Afghanistan: A realist paradox?“ In: International Journal 2/2013, S. 274-288.
[6] Vgl. dazu: Wolfgang Taus, Kanadas Außen- und Sicherheitspolitik. In: ÖMZ 1/2018
[7] Christian Leuprecht / Joel Sokolsky / Jayson Derow, PAYING IT FORWARD: CANADA’S RENEWED COMMITMENT TO NATO’S ENHANCED FORWARD PRESENCE. In: International Journal 1/2019, S. 162-171.
[8] Roland Paris, ALONE IN THE WORLD?: MAKING SENSE OF CANADA’S DISPUTES WITH SAUDI ARABIA AND CHINA. In: International Journal 1/2019,
S. 151-161.