DIE LAGE IN WEISSRUSSLAND

Weißrussland gilt heute noch immer als ein post-kommunistisches Konstrukt nach dem Ende des Sowjetimperiums.

Weißrussland stand allerdings nur die letzten 200 Jahre unter russischer Kontrolle, war zuvor aber doppelt so lang Teil Polen-Litauens. Weißrussland – der offizielle Staatsname lautet Republik Belarus – ging 1991 aus der Konkursmasse der untergegangenen Sowjetunion hervor. Mit der Wahl Alexander Lukaschenkos zum Präsidenten im Jahr 1994 und mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung deutete sich sich erneut ein autoritärer staatspolitischer Kurs an, der bis dato anhielt. Wegen der 1995 beschlossenen Zweisprachigkeit (weißrussisch/russisch) konkurrieren eine traditionelle Landesbezeichnung und ein moderner Staatsname. Die erste Variante lautet Belorussija oder Weißrussland, die zweite Belarus oder Weiße Rus. Dazu zählen auch die weiß-rot-weiße und die rot-grüne Fahne, die Symbole von Revolution und Gegenrevolution. [1]

Rus leitet sich von „Ruotsi“ ab, der finnischen Bezeichnung für die „schwedischen Ruderer“, die als Fernhandelskaufleute im 9. Jahrhundert entlang der Flüsse von der Ostsee zum Schwarzen Meer Burgsiedlungen errichteten. Der Name wurde im Zuge einer Assimilation an die ostslawischen Stämme sowohl auf das Herrschaftsgebiet als auch auf die darin lebende Bevölkerung übertragen. Auf diese Weise entstand bis zur Annahme des orthodoxen Christentums 988 das Reich von Kiew, die sogenannte Kiewer Rus, die 1169 in Teilfürstentümer zerfiel und 1240 von den Mongolen erobert wurde. Auf dem Gebiet des heutigen Weißrussland befanden sich damals die Fürstentümer von Polozk und Turow. [2]

Mit der Expansion des Großfürstentums Litauen in das Machtvakuum im Südwesten im 13. Jahrhundert und dem Aufstieg Moskaus unter mongolischer Tributherrschaft im 14. Jahrhundert kündigten sich für die betroffenen Ostslawen unterschiedliche Entwicklungspfade an. Wesentlich dafür war die Tatsache, dass das Großfürstentum Litauen mit der Hinwendung zum Katholizismus in den Jahren 1385/86 mit dem westslawischen Königreich Polen eine Personalunion und 1569 eine Realunion einging. Die Polen-Litauen zugefallenen Gebiete der ehemaligen Kiewer Rus hießen in lateinischer Ableitung Ruthenien, und deren orthodoxe ostslawische Bewohner wurden als Ruthenen bezeichnet.

Aus den verheerenden Nordischen Kriegen des 17. Jahrhunderts, die im Volksmund damals als die „schwedische Sintflut“ verstanden wurden, und dem Bauern- und Kosakenaufstand unter Bogdan Chmelnizki resultierten demografische Katastrophen und materielle Zerstörungen. Im Zuge der Teilungen Polen-Litauens kamen die Gebiete des heutigen Weißrussland dann in den Jahren 1772 bis 1795 an das russische Zarenreich. Auf die polnischen Aufstände von 1830 und 1863 folgten Repressionen der zaristischen Bürokratie.

Eine Weißrussische Volksrepublik wurde gegen Ende des Ersten Weltkriegs am 9. März 1918 unter deutscher Besatzung ausgerufen. Diese Republik war jedoch nur von kurzer Dauer. Schon 1919 wurde sie im Zeichen des russischen Bürgerkrieges durch die Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik abgelöst. Als Folge des Hitler-Stalin-Pakts 1939 und des Zweiten Weltkrieges wurden deren Grenzen auf die Fläche des heutigen Staates ausgedehnt. Der nationalsozialistischen Besatzung und dem Holocaust gingen die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der stalinistische Terror voraus.

In der Phase von Glasnost und Perestroika 1988 in einem bereits dem Untergang geweihten Sowjetimperiums wurde schließlich eine auf Unabhängigkeit bedachte Weißrussische Volksfront geschaffen. Sie holte auch wieder die Farben der Volksrepublik von 1918 hervor.

Das Gebiet Weißrusslands stand 400 Jahre unter polnisch-litauischer, aber nur 200 Jahre unter russischer bzw. sowjetischer Dominanz. Den Kern der Geschichte dieser Region bilden die Lebenswelten der ostslawischen Bauern und jüdischen Händler sowie der polnischen Gutsbesitzer und russischen Beamten. Vor 1991 gab es allerdings keinen wirklich unabhängigen weißrussischen Staat. [3] Mit der Ära Lukaschenko brach die Phase eines post-kommunistischen, autoritär regierten Systems an. [4] Wegen regelmäßiger Wahlfälschungen und der Aufrechterhaltung der Todesstrafe blieb Weißrussland allerdings die Aufnahme in den Europarat verwehrt. Jenseits politischer Sanktionen förderte die EU stattdessen zivilgesellschaftliche Aktivitäten.

Mit den Präsidentschaftswahlen vom August 2020 schien es, als würde das Langzeit-Regime Lukaschenkos zunehmend ins Wanken geraten.

Der weißrussische Staatschef Alexander Lukaschenko hatte sich am 9. August 2020 zum sechsten Mal mit rund 80 Prozent der Stimmen zum Wahlsieger ausrufen lassen. [5] Zahlreiche Bürger und ausländische Beobachter zweifelten das Ergebnis allerdings an und hielten die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja für die eigentliche Gewinnerin. Es kam zu gewaltsamen Unruhen, bei denen die Polizei mit voller Härte durchgriff.

Tichanowskaja selbst floh mit ihren Kindern ins Nachbarland Litauen. Ihr Mann, ein regierungskritischer Blogger, sitzt in Weißrussland in Haft. Mittlerweile scheint Lukaschenko den Rückhalt in der weißrussischen Gesellschaft zu verlieren. Nach einem Telefongespräch Lukaschenkos mit Putin, kündigte letzterer an, seinem Regime im Nachbarland militärisch beizustehen.

Weißrussland ist ein wichtiger Akteur im globalen Waffenhandel - und mit seinem alten Partner Russland und seinem neuen Partner China will das Land seinen Marktanteil ausbauen. Dennoch zeigen sich auch in dieser Region die Fallstricke allzu großer Abhängigkeiten durch China. [6]

Die Turbulenzen im Lande dürften aber die bisher geltenden Zielsetzungen und Wegmarken durcheinander bringen.

Trotz anhaltender Massenproteste in Weißrussland lehnte in der Folge Staatschef Alexander Lukaschenko eine Neuwahl ab. Zugleich stellte er Reformen in den Raum. Er sei bereit, Befugnisse zu teilen, „aber nicht unter Druck und nicht über die Straße“, sagt er in Minsk. Die Opposition rief unterdessen zu einem Generalstreik auf.

Lukaschenko ordnete parallel dazu die Verlegung von Fallschirmjägern nach Grodno im Westen des Landes an. Er wies außerdem das Verteidigungs- und das Innenministerium sowie den Geheimdienst KGB an, keine „ungesetzlichen Aktionen“ im Land zuzulassen.

Lukaschenko hatte der NATO einen Truppenaufmarsch an seiner Westgrenze vorgeworfen. Panzer und Flugzeuge stünden nur 15 Minuten von der Grenze entfernt, so Lukaschenko. Die NATO wies diese Behauptung zurück: „Es gibt keine NATO-Ansammlung in der Region“, hieß es. „Die multinationale Präsenz der NATO im östlichen Teil der Allianz ist keine Bedrohung für irgendein Land.“ Vielmehr sei sie defensiv, verhältnismäßig, friedenssichernd und solle Konflikte verhindern.

Trotz wiederholter Massenproteste der Opposition und der Unterstützung der Protestbewegung durch die EU, wie es in einer öffentlichen Stellungnahme hieß, konnte das Regime von Präsident Lukaschenko Anfang September 2020 die Lage wieder etwas unter Kontrolle bringen.

Beim „Marsch der Einheit“ von Swetlana Tichanowskajas Oppositionsbündnis gingen am 6. September 2020 in Minsk dann wieder bis zu 200.000 Bürger auf die Straßen. Damit dauerten die Proteste gegen die mutmaßlichen Wahlfälschungen in Weißrussland an. Lukanschenko selbst erklärte, dass er mit der Opposition in keinen Dialog eintreten und seine neue Amtszeit antreten werde. Er reagierte mit aller Härte seiner Spezialtruppen im Innenministerium, den Omon-Einheiten, gegen die Demonstranten.

Bereits am 5. September 2020 kam es in weißrussischen Städten zu Frauenkundgebungen gegen Gewalt und für eine Wahlwiederholung. In Minsk demonstrierten erneut die Studierenden und ein Teil der Professoren. Die beiden unabhängig voneinander organisierten Proteste zogen in Minsk je ein paar tausend Teilnehmer an. Beim Frauenprotest wurde zum ersten Mal eine große EU-Flagge gesichtet. Bisher waren die Proteste in Weißrussland im Gegensatz zum Maidan des Jahres 2013/14 in der Ukraine nicht mit proeuropäischen Symbolen versehen. Dies könnte sich nun mit Lukaschenkos erneuter aufdringlicher Umwerbung des Kremls ändern, hielten ausländische Beobachter fest.

Unterdessen wurden inhaftierte weißrussische Oppositionspolitiker heimlich außer Landes – ins Exil nach Polen – gebracht. Die weißrussische Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa wurde zudem am 7. September festgenommen.

Lukaschenko kritisiert die NATO erneut – EU erkennt Lukaschenko nicht mehr als Staatschef an

„Wir sind gezwungen, militärische Gegenmaßnahmen zu ergreifen“, sagte der weißrussische Verteidigungsminister Wiktor Chrenin am 4. September 2020. Im Nachbarland Litauen waren zuvor neue US-Truppen für militärische Übungen eingetroffen. Der unter Druck geratene Staatschef Lukaschenko warf der NATO vor, bewusst Einheiten an der Grenze zu Weißrussland zu positionieren, um sein Land zu destabilisieren.

Die geplanten größeren Militärübungen im Herbst in Litauen dürften die Spannungen in der Region weiter erhöhen.

Parallel dazu hielten die Massenproteste gegen das Regime Lukaschenko weiter an, wobei die Sicherheitskräfte einmal mehr mit aller Härte gegen Demonstranten vorgingen. Am 14. September reiste der politisch angeschlagene weißrussische Präsident zu einem Krisengespräch mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin nach Sotschi, um das weitere Vorgehen zu klären.

Unterdessen erkannte die EU offiziell Lukaschenko nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl in Weißrussland nicht mehr als Staatschef an. „Wir halten die Wahlen vom 9. August für gefälscht und wir erkennen Lukaschenko nicht als legitimen Präsidenten von Belarus an“, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am 15. September im EU-Parlament. Gegen eine „große Zahl“ der Verantwortlichen für die Gewalt und die Wahlfälschung in Weißrussland würden derzeit Sanktionen vorbereitet, hieß es aus Brüssel.

Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in Brüssel

Es war zwar kein offizielles Treffen der weißrussischen Oppositionsführerin Tichanowskaja mit der EU-Spitze in Brüssel, aber dennoch wurde ihr die Möglichkeit geboten, vor dem EU-Parlament und dem Auswärtigen Ausschuss ihre Sicht der Dinge über die Entwicklungen in Weißrussland darzulegen. Sie betonte: „Unser Kampf ist nur ein Kampf für Freiheit, Demokratie und menschliche Würde.“ Es gehe nicht um eine geopolitische Revolution. Die Opposition sei weder pro- noch antirussisch, weder pro- noch antieuropäisch, sondern einfach nur pro-belarussisch. Das zielte auf die empörten Stimmen aus Minsk und Moskau, die Europa wegen des Besuchs der Oppositionsführerin vorwarfen, es wolle Weißrussland ins Chaos stürzen. Tichanowskaja verbat sich jede äußere Einmischung, aber sie zog eine feine Linie dafür: „Für Demokratie und Menschenrechte aufzustehen, ist kein Eingriff in die inneren Angelegenheiten.“

Trotz aller internationaler Kritik und anhaltender Massenproteste ließ sich Lukaschenko am 23. September für ein weiteres Mal als Präsident Weißrusslands vereidigen.  Dass die Amtseinführung „im Geheimen“ angesetzt wurde, zeigte einmal mehr, dass der Machtapparat Angst habe vor Protesten der Bevölkerung, die den Wahlsieg vom 9. August nicht anerkenne, meinten Kritiker.

Doch die Großdemonstrationen der Gegner Lukaschenkos gingen insbesondere in Minsk unvermindert weiter. Die Sicherheitskräfte setzten unter anderem Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein.

Russischer Auslandsgeheimdienstchef warnt vor Umsturzversuchen aus dem Ausland

Bei einem Besuch in Weißrussland am 22. Oktober warnte der russische Geheimdienstchef Sergej Naryschkin vor Umsturzversuchen aus dem Ausland. Der Leiter des Auslandsgeheimdienstes SWR sagte in der Hauptstadt Minsk mit Blick auf die seit Wochen andauernden Proteste im Nachbarland: „Der Einfluss aus dem Ausland ist offensichtlich. Das beobachten wir auch in Russland.“ Es gebe Bestrebungen, die bestehende Ordnung und die „politische Macht“ zu ändern, so Naryschkin.

Mit Blick auf die zunehmende Gewalt der Sicherheitskräfte hatte die weißrussische Demokratiebewegung zuletzt zu einem „Marsch gegen den Terror“ aufgerufen. Lukaschenko drohte den Demonstranten: „Jetzt reicht es. Wir werden nicht zurückweichen.“ Er habe früh gewarnt, dass rote Linien nicht überschritten werden dürften. „Wenn jemand einen Militärangehörigen berührt, muss er mindestens ohne Hände weggehen“, sagte Lukaschenko im weißrussischen TV.

Abgeschlossen: Anfang November 2020


Anmerkungen:

[1] Siehe dazu etwa: Per Anders Rudling, The Rise and Fall of Belarusian Nationalism, 1906–1931, Univ Of Pittsburgh Pr 2014, 448 Seiten.

[2] Vgl. dazu: Lubov Bazan, A History of Belarus, Glagoslav Publications B.v. 2014, 378 Seiten.

[3] Andrew Savchenko, Belarus: A Perpetual Borderland, Brill Academic Publishers 2009, 129 Seiten.

[4] Brian Bennett, The Last Dictatorship in Europe: Belarus Under Lukashenko, Oxford University Press 2011, 320 Seiten.

[5] Vertiefend dazu: Andrew Wilson, Last Dictatorship in Europe: Belarus Under Lukashenko, Oxford University Press 2011, 320 Seiten.

[6] Reuben F. Johnson, „BELARUS SAYS WELCOME TO CHINA, IRAN AND NORTH KOREA“. In: European Security & Defence 5/2020, S. 14-16.