DER KONFLIKT UM BERG-KARABACH


Der nunmehr wieder ausgebrochene Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan galt seit dem Ende der Kampfhandlungen 1994 als „eingefrorener Konflikt“. Der Beitrag bietet einen kurzen historischen Überblick und beleuchtet die aktuellen Ereignisse. Seit Ende des Krieges 1994 sucht die sogenannte Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nach einer langfristigen Lösung des Konflikts. Der von Russland, Frankreich und den USA geführte Prozess verlief bisher ergebnislos.


Nagorni Karabach nennt sich offiziell Republik Arzach und ist seit dem Ende des letzten Krieges de facto unabhängig. Diese Eigenstaatlichkeit wird allerdings von keinem UNO-Mitgliedsland anerkannt – nicht einmal von Armenien. Völkerrechtlich gehört das gesamte Gebiet weiterhin zu Aserbaidschan. Obwohl es in den letzten zwanzig Jahren immer wieder zu Gefechten an der Grenze kam, hat sich bislang der Frontverlauf nicht mehr stark verschoben. Mit den jüngsten Kampfhandlungen kam es zu einem politisch-militärisch-territorialem „Ausgleich“ der beiden verfeindeten Nachbarländer – unter russischer und türkischer Vermittlung.


Die ethnischen Spannungen zwischen den christlich geprägten Armeniern und den muslimischen Aserbaidschanern gehen weit in die Geschichte zurück. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Armenier im Südkaukasus in der Minderheit. Zwischen 1846 und 1915 verachtfachte sich dann ihre Zahl. Dadurch nahmen die Spannungen zwischen den beiden Ethnien zu. 1905/06 und 1918/19 kam es in Baku und in armenischen und aserbaidschanischen Dörfern in Nagorni Karabach zu Massakern, denen Zehntausende Armenier und Aserbaidschaner zum Opfer fielen.

In der Sowjetära war Berg-Karabach grundsätzlich seit 1923 Teil von Aserbeidschan.  Doch erhielten die Armenier in Nagorni Karabach durch Josef Stalin eine begrenzte Autonomie. Stalins Strategie war es, die Grenzziehung als einen Hebel zu benutzen, nationale Bewegungen zu schwächen. In den letzten Jahren des Sowjetimperiums ließ der Einfluss Moskaus immer mehr nach. Der Kreml hatte mit anderen, viel größeren Problemen zu kämpfen, als mit Berg-Karabach. Die armenische war eine der ersten nationalen Bewegungen, die sich Gehör zu verschaffen begannen. 1987 formierte sich das Karabach-Komitee, das vom damaligen KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow verlangte, Karabach an Armenien zu übertragen. Im Februar 1988 kam es zu Massakern an Armeniern in der aserbaidschanischen Stadt Sumgait. In Stepanakert demonstrierten Tausende Armenier für eine Angliederung Karabachs an Armenien. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR aber verlangte die armenische Bevölkerungsmehrheit der kleinen Bergregion die Unabhängigkeit und erkämpfte sich mit Hilfe Armeniens die Oberhoheit über das Gebiet. Der blutige Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan dauerte von 1992 bis 1994. Die Zahl der Toten wird auf 25.000 bis 50.000 geschätzt. Mehr als eine Million Menschen wurden vertrieben: Aserbaidschaner flohen aus Armenien, Nagorni Karabach und den angrenzenden Gebieten. Armenier mussten Aserbaidschan verlassen.

Am 9. Mai feiert Berg-Karabach zugleich den Sieg über Hitler-Deutschland, die Gründung der eigenen Armee und die Befreiung der Stadt Sushi im Karabach-Krieg, durch den die kleine Kaukasus-Enklave sich in den 1990er Jahren eine von niemandem anerkannte staatliche Unabhängigkeit errang.

Traditionell ist Russland die Schutzmacht der christlichen Armenier im Kaukasus. Die Türkei unterstützt dagegen die muslimisch geprägten Aserbaidschaner, deren Sprache eng mit dem Türkischen verwandt ist. Die Türkei und Aserbaidschan sind eng miteinander verbunden. Immer wieder hat Ankara von seinem „Brudervolk“ gesprochen. Dazu kommt, dass das armenisch-türkische Verhältnis seit dem Genozid am armenischen Volk im Ersten Weltkrieg tiefst zerrüttet ist. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan stellte sich bereits demonstrativ hinter Aserbaidschan: Die Türkei stehe „mit allen Mitteln und ganzem Herzen“ an der Seite des Landes.

Russland sieht den südlichen Kaukasus traditionell als seine Einflusssphäre an. Moskau besitzt in Armenien einen großen Militärstützpunkt.

Armenien ist Mitglied in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, einem von Russland angeführten Militärbündnis ehemaliger Sowjetrepubliken. Im Fall eines Angriffs könnte Armenien auf die Unterstützung der Verbündeten zählen. Dies gilt aber nicht bei einem Angriff auf das Territorium von Nagorni Karabach. Dennoch betonte der armenische Botschafter in Moskau, Wardan Toganjan, dass der russische Militärstützpunkt in Gjumri der „wichtigste Sicherheitsfaktor“ in der Region für Armenien sei. Gjumri liegt rund 120 Kilometer nördlich der armenischen Hauptstadt Erewan. Nach russischen Angaben sind dort ca. 3500 russische Soldaten stationiert.

Moskau unterhielt allerdings in der letzten Zeit nicht nur gute Beziehungen zu Armenien, sondern auch zum autoritär geführten Aserbaidschan. Beide verfeindeten Länder belieferte der Kreml mit russischen Waffen.

Trotz eines Aufrufs per Videoschaltung von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres am 28. September 2020 an den aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev und den armenischen Regierungschef Nikol Paschinjan, sofort die Waffen schweigen zu lassen, gingen die blutigen Gefechte weiter. Armenien behauptete zwischenzeitlich, ein eigener Kampfjet sei von einem türkischen Kampfflugzeug abgeschossen worden. Aserbaidschan und die Türkei dementierten die Angaben umgehend und bezeichneten die Vorwürfe als Propagandalüge.

Der UNO-Sicherheitsrat zeigte sich besorgt über die Eskalation des Konflikts und forderte ein sofortiges Ende der Kämpfe. Die 15 Mitglieder unterstützten den UNO-Generalsekretär bei seiner Forderung nach einer Waffenruhe, Deeskalation der Spannungen und sofortiger Wiederaufnahme von Verhandlungen. Zuvor hatten die 15 Mitglieder des Gremiums das Thema hinter verschlossenen Türen besprochen. Die Initiative dafür war von Deutschland und Frankreich ausgegangen und wurde von Belgien, Großbritannien und Estland unterstützt.

Die Präsidenten der USA, Russlands und Frankreichs verurteilten nach Kreml-Angaben in einer gemeinsamen Erklärung, die am 1. Oktober 2020 veröffentlicht wurde, die militärische Gewalt in der Konfliktregion. Sie forderten die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen und die Rückkehr zur Waffenruhe, wie der Kreml in Moskau mitteilte. Unterzeichnet wurde die Erklärung vom damaligen US-Präsident Donald Trump, Frankreichs Staatsoberhaupt Emmanuel Macron und Kreml-Chef Wladimir Putin.

Die Führung Armeniens und Aserbaidschans lehnte hingegen eine Waffenruhe vorerst ab. Die Kämpfe gingen indes mit unverminderter Härte weiter. Aserbaidschanische Kampfflugzeuge bombardierten wiederholt auch die Hauptstadt Berg-Karabachs. Der aserbaidschanische Präsident Aliyev ließ am 4. Oktober 2020 unterdessen in einer Fernsehansprache durchblicken, dass er aktuell eine von Russland, der EU und den USA geforderte Feuerpause ablehnt. „Aserbaidschan hat eine Bedingung, und das ist die Befreiung unserer Gebiete“, so Aliyev.

Berg-Karabach gehöre zu Aserbaidschan. Armenien müsse das akzeptieren und einen Zeitplan für einen Rückzug nennen. Danach werde sein Land die Kampfhandlungen einstellen. Man werde Armenien aber nicht die Zeit zum Hochfahren seiner Stärke geben, betonte der aserbaidschanische Präsident. Nach Meinung internationaler Experten unterstützt Ankara Aserbaidschan mit Waffen.

Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan machte die Türkei für die Eskalation des Konflikts um die Südkaukasus-Region Berg-Karabach verantwortlich. „Ohne das aktive Eingreifen der Türkei wäre es nicht so weit gekommen“, sagte Paschinjan. Aserbaidschans Entschluss, „einen Krieg zu beginnen“, sei durch die „volle Unterstützung der Türkei“ motiviert gewesen. Sollte der Konflikt weiter eskalieren, werde sich Russland zugunsten Armeniens in den Konflikt einmischen. „Russland wird seine vertraglichen Verpflichtungen einhalten“, so der armenische Regierungschef.


Russland und die Türkei als Mittler und Friedensschützer

Im Konflikt um die Südkaukasus-Region Berg-Karabach einigten sich schließlich die Staatschefs von Armenien und Aserbaidschan unter Vermittlung des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf eine vertiefte Waffenruhe. Russische Friedenstruppen sicherten daraufhin die Waffenruhe ab. Die Vereinbarung sah die Entsendung von 1.960 russischen Friedenssoldaten und territoriale Zugeständnisse vor.

Viele der christlichen Karabach-Armenier lehnten ein Zusammenleben mit den muslimischen Aserbaidschanern ab. Aus Karabach gab es zahlreiche Berichte über flüchtende Karabach-Armenier aus den Gebieten, die dem Abkommen zufolge Aserbaidschan übergeben werden sollen.

In Armenien kam es zu Massenprotesten gegen das Abkommen, das viele als „Kapitulation“ werteten. Der Präsident der international nicht anerkannten Republik Arzach (früher Republik Berg-Karabach), Araik Harutjunian, verteidigte die Initiative für eine Beendigung des Krieges. Er habe den armenischen Regierungschef Nikol Paschinjan darum gebeten, um den Verlust von Menschenleben und noch größeren Gebieten zu verhindern.

Nach Einschätzung des russischen Präsidenten Wladimir Putin von Mitte November 2020 hielt die Waffenruhe. „Die Kämpfe sind vollständig beendet worden, die Situation hat sich stabilisiert“, sagte er. Fast 2.000 russische Friedenssoldaten patrouillierten seither in der Region.

Ein weiterer Punkt der Übereinkunft war der Austausch gefallener Soldaten. Armenien und Aserbaidschan hätten bereits etwa 200 Leichen einander übergeben, sagte Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz am 17. November.

Das türkische Parlament gab am 17. November 2020 grünes Licht für die Entsendung von eigenen Soldaten nach Aserbaidschan zur Überwachung der Waffenruhe in der Südkaukasus-Region Berg-Karabach. Die Truppen werden in einem gemeinsamen Zentrum mit russischen Soldaten stationiert, hieß es.

Das Mandat für die türkischen Truppen ist zunächst auf ein Jahr befristet. Der künftige Status von Berg-Karabach soll durch die Minsker Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ausverhandelt werden, hieß es.

Unter Vermittlung von Kreml-Chef Putin hatten die verfeindeten Nachbarn Aserbaidschan und Armenien bei einem ersten Treffen in Moskau am 11. Jänner 2021 neue Schritte für einen Wiederaufbau der umkämpften Südkaukasus-Region Berg-Karabach vereinbart.

Armenien hob schließlich in der Konfliktregion Berg-Karabach im März 2021 das Kriegsrecht auf. Mehr als vier Monate nach dem Ende der Kämpfe gegen Aserbaidschan stimmte das Parlament in der Hauptstadt Jerewan mit großer Mehrheit dafür. Aserbaidschan hatte das Kriegsrecht bereits im Dezember 2020 aufgehoben.

In dem Krieg vom 27. September bis 9. November 2020 hatte das Nachbarland Aserbaidschan weite Teile des Anfang der 1990er Jahre verlorenen Gebiets und umliegende, von Armenien besetzte Regionen wieder zurückerobert. Mehr als 6.000 Menschen starben bei den Kämpfen.

 

Abgeschlossen: Anfang Mai 2021