VOM ARABISCHEN FRÜHLING ZUM ARABISCHEN WINTER


Wer 2011 die emotionalen Aufwallungen, die offenen und kontroversen politischen Diskussionen im Zuge des Arabischen Frühlings im arabischen Raum, mitverfolgte, die selbst unter dem diktatorischen syrischen Regime unter Präsident Baschir al-Assad  vorerst nicht zu verstummen schienen, der erkannte, dass es Potenzial für einen anderen Weg gab, betonten ausländische Beobachter immer wieder. Dass die junge Generation keine Erfahrung in Politik hatte, kann man ihr nach jahrzehntelanger Repression und schlechter Bildung kaum vorwerfen. Was sollten die Demokratie-Aktivisten der Provokation von Gewalt, dem Schüren konfessioneller Identitäten, geopolitischer Einmischung und brutalen Militärapparaten entgegensetzen? Dass einzig in Tunesien die Hoffnung auf einen erfolgreichen Übergang zur Demokratie noch nicht verloren ist, liegt gerade daran, dass all diese destruktiven Elemente hier weniger präsent waren. 2019 starb der ehemalige tunesische Langzeitregent Ben Ali im saudischen Exil. Das Ende seiner Amtszeit 2011 war gleichzeitig der Beginn einer Reihe von politischen und militärischen Umwälzungen in weiten Teilen der arabischen Welt. Religiös motivierte, exzessive Gewalt insbesondere durch die infolge der politischen Wirren erstarkende Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) erschütterte vor allem Syrien und den Irak. Erst eine vereinte Militärstreitmacht unter Mitwirkung höchst unterschiedlicher Mächte konnte die Herrschaft des IS über große Territorien beenden. Doch noch immer bleibt der IS als Ideologie in den Köpfen vieler Anhänger im In- und Ausland weiterhin präsent. Auch vermehrte  Terroranschläge in Afghanistan werden seit Beginn des Friedensprozesses der USA sowie der afghanischen Zentralregierung in Kabul mit den Taliban vor allem jenen ehemaligen islamistischen Aufständischen zugeschrieben, die seither dem IS die Treue geschworen haben.

Der erweiterte Mittlere Osten ist und bleibt ein Unruheherd inmitten einer höchst komplexen, unübersichtlichen Gemengelage unterschiedlichster Interessen. Ein Ergebnis scheint sich herauskristallisiert zu haben: Die mittlerweile offen verkündete Allianz Saudi-Arabiens und anderer Golfstaaten mit Israel, die alle den Expansionismus des schiitischen Iran im Raum als Bedrohung ansehen. Dahinter stehen die Großmächte wie Russland, die USA, aber auch China, die jeweils ihre eigenen Interessen umzusetzen verfolgen.

Selbst die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan strebt eine Politik neoosmanischer Renaissance mit ihrer militärisch-politischen Präsenz in Nordsyrien, in Libyen und im wieder aufgeflammten Konflikt um Berg-Karabach zwischen Aserbaidschan und Armenien an. Der Streit mit dem NATO-Partner Griechenland und Zypern um die Schürfrechte für die Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer stellt die Türkei einmal mehr als Gegner Israels dar, die in diesem Raum ein wichtiger ökonomischer Partner der beiden anderen Staaten sind.

Ägypten unter Präsident Abdel Fatah al-Sisi geht seit dem Sturz seines islamisch orientierten Vorgängers Mohammed Mursi gegen die sunnitisch-islamischen Muslimbrüder im Lande mit harter Hand vor. Nach dem Umsturz in Ägypten 2013 und der darauffolgenden Absetzung Mursis wurde die Muslimbruderschaft in Ägypten verboten und als Terrororganisation eingestuft. Auch Saudi-Arabien etwa stufte die Muslimbrüder 2014 als Terrorgruppe ein.

Dass die türkische AKP-Regierung den Islamismus zunehmend zu ihrer Leitideologie erhebt, offenbart besonders auch ihre energisch betriebene Kampagne zum Schutz des islamischen Ost-Jerusalem. Damit einher geht der stetige Ausbau der türkischen Beziehungen zu führenden arabischen Islamisten, die den Muslimbrüdern nahestehen und sich auch aus den Reihen der palästinensischen Hamas rekrutieren. Mit deren im Exil agierenden militanten Rechtsgelehrten von der 2009 ins Leben gerufenen „Gesellschaft palästinensischer Gelehrter in der Diaspora“, die seit 2015 ihren Sitz in Istanbul hat, arbeiten nicht nur die erwähnten türkisch-islamistischen Stiftungen, sondern längst auch das religiöse türkische Establishment offen zusammen. Immer enger wird dessen Verhältnis auch zur „Internationalen Union muslimischer Gelehrter“, die von dem in Katar ansässigen einflussreichen ägyptischen Rechtsgelehrten und Muslimbruder Yusuf al-Karadawi angeführt wird.

Dass die Türkei diese Organisationen hofiert, hat die wachsenden Gräben zwischen Ankara, das neuerdings die Führung in der sunnitischen Welt beansprucht, und Riad tiefer werden lassen.

Die verschärften Spannungen zwischen den USA in der Ära Trump und dem Iran insbesondere nach dem einseitigen Ausstieg Amerikas aus dem internationalen Atomabkommen mit Teheran erhöhen zudem die volatile Gemengelage im Großraum. 

Die Hoffnung vieler Menschen im Zuge des sogenannten „Arabischen Frühlings“ für Freiheit und Gerechtigkeit wurde mit Ausnahme Tunesiens weitgehend durch nachfolgende politisch-religiöse Gewalt, Krieg, Terror und Repression (unter Einschluss externer Großmächte) im erweiterten Mittleren Osten zerstört.

Hier ein kurzer Überblick über einige Eckpunkte der Entwicklung:

 

17. Dezember 2010: Der junge tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi setzt sich in der Provinzstadt Sidi Bouzid aus Protest gegen die wiederholte Konfiszierung seines Marktstands durch die Polizei selbst in Brand. Die Verzweiflungstat löst landesweite Proteste gegen die autoritäre Herrschaft von Zine el-Abidine Ben Ali aus und wird zum Funken, der den sogenannten „Arabischen Frühling“ auslöst.

13. Jänner 2011: Nach wochenlangen zum Teil gewaltsamen Protesten verkündet der tunesische Präsident Ben Ali nach 34 Jahren an der Macht, dass er nicht mehr zur Wahl antreten werde, und flieht nach Saudi-Arabien. Der Politiker, dessen Familie ein riesiges Vermögen angehäuft hat, verstirbt im September 2019 im Exil in Saudi-Arabien.

25. Jänner 2011: Von Tunesien greifen die Proteste auf Ägypten über. Am „Tag des Zorns“ demonstrieren auf dem Tahrir-Platz in Kairo hunderttausende Ägypter unter dem Slogan „Brot, Freiheit, Würde“ gegen das repressive Regime des Langzeit-Präsidenten Hosni Mubarak, der das Land am Nil seit 1981 mit harter Hand regiert.

27. Jänner 2011: Inspiriert von den Protesten in Tunesien und Ägypten gehen auch in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa erstmals Tausende Demonstranten, viele von ihnen Studierende, gegen Ali Abdullah Saleh auf die Straße, der das Land im Süden der Arabischen Halbinsel seit 33 Jahren regiert. Die Proteste weiten sich rasch aus.

Jänner/Februar 2011: Auch in Algerien, im Irak und im Sudan kommt es wegen der wirtschaftlichen Not und des Frusts über die korrupten politischen Strukturen zu Protesten, die jedoch mit Gewalt unterdrückt werden. Erst 2019 – in einer zweiten Welle des Arabischen Frühlings – gibt es in diesen drei Ländern erneut Massenproteste.

11. Februar 2011: Nach 18-tägigen Protesten, bei denen mehr als 800 Personen getötet werden, fällt in Ägypten das Mubarak-Regime. Der Präsident übergibt die Macht an den Obersten Militärrat. Die Verfassung wird ausgesetzt und das Parlament aufgelöst. Mubarak wird später wegen der Gewalt gegen die Demonstranten angeklagt.

17. Februar 2011: Nach ersten kleineren Protesten findet auch in Libyens Hauptstadt Tripolis ein „Tag des Zorns“ statt. Das Regime von Muammar al-Gaddafi geht mit Gewalt gegen die Demonstranten vor. In den folgenden Tagen brechen Aufstände aus, in Bengasi und anderen Städten übernehmen Rebellen die Kontrolle.

15. März 2011: In Damaskus organisieren Oppositionelle eine erste Demonstration gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Drei Tage später brechen nach dem Freitagsgebet auch in Daraa Proteste aus, nachdem dort mehrere Kinder wegen des Schreibens von Anti-Assad-Parolen inhaftiert worden waren. Es gibt erste Tote.

16. März 2011: Im Golfemirat Bahrain lässt König Hamad bin Isa Al Chalifa die seit Februar andauernden Proteste der schiitischen Opposition mithilfe von Soldaten aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten niederschlagen. Das Protestlager auf dem Perlenplatz in Manama wird gewaltsam geräumt.

17. März 2011: Der UNO-Sicherheitsrat beschließt unter Enthaltung von Russland und China eine Flugverbotszone über Libyen, da die Truppen von Gaddafi kurz vor der Rebellenhochburg Bengasi stehen. Die folgende NATO-Intervention verhindert eine Offensive auf die Großstadt, nicht aber die Eskalation des Bürgerkriegs.

29. Juni 2011: Da das Assad-Regime in Syrien zunehmend gewaltsam gegen Demonstranten vorgeht, gründen abtrünnige Offiziere die Freie Syrische Armee (FSA). Der Schritt markiert den Beginn der Militarisierung des Widerstands sowie das Abgleiten der zunächst friedlichen Proteste in den Bürgerkrieg.

20. Oktober 2011: Nach monatelangen Kämpfen und dem Verlust der Hauptstadt Tripolis gerät der libysche Diktator Gaddafi auf der Flucht aus seiner belagerten Heimatstadt Sirte unter Beschuss von NATO-Kampfjets. Bei der Gefangennahme wird er von Rebellen getötet. Der Bürgerkrieg in Libyen geht nach seinem Tod weiter.

23. Oktober 2011: In Tunesien wird eine verfassunggebende Versammlung gewählt. Einen Monat später tritt die von der islamistischen Nahda-Partei dominierte Kammer erstmals zusammen, um eine neue Konstitution auszuarbeiten und Wahlen vorzubereiten.

23. November 2011: In Jemen akzeptiert Präsident Saleh nach monatelangen Kämpfen ein Abkommen zur Machtübergabe. Sein Stellvertreter Mansur Hadi übernimmt im Januar 2012 die Führung, während Saleh in die USA reist, um sich medizinisch behandeln zu lassen.

28. November 2011: Erstmals in der Geschichte Ägyptens finden freie Parlamentswahlen statt. Sie enden mit einem Triumph für die Parteien der islamistischen Muslimbruderschaft und der Salafisten, die über 70% der Stimmen erringen. Sieben Monate später wird die Wahl vom Verfassungsgericht annulliert und das Parlament aufgelöst.


17. Juni 2012: Bei der zweiten Runde der Präsidentenwahl in Ägypten gewinnt der Kandidat der Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi. Das Militär steht ihm ablehnend gegenüber. Die Wirtschaft rutscht immer weiter in die Krise, es gibt vermehrt soziale Unruhen.

3. Juli 2013: Nach tagelangen Massenprotesten wird Ägyptens Präsident Mursi durch einen Putsch des Militärs unter Abdel Fattah al-Sisi gestürzt. Proteste seiner Anhänger werden blutig niedergeschlagen. Am 14. August werden bei der Räumung eines Protestlagers in Kairo 817 Personen getötet. Sisi wird 2014 Präsident, Mursi landet im Gefängnis. 2019 bricht er bei einem Auftritt vor Gericht zusammen und stirbt.

21. Jänner 2014: In Jemen werden Empfehlungen für einen neuen Gesellschaftsvertrag verabschiedet. Die schiitischen Huthi-Rebellen hatten vorher die Verhandlungen verlassen. Im September nehmen sie die Hauptstadt Sanaa ein. Sunnitische Stammeskämpfer verbünden sich mit al-Kaida gegen die Huthi. Im März 2015 greift zudem eine von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition auf der Seite von Präsident Hadi in den Konflikt ein, wodurch dieser zunehmend eskaliert. Der Konflikt dauert weiter an.

26. Januar 2014: Die verfassunggebende Versammlung in Tunesien stimmt mit großer Mehrheit einer neuen Verfassung zu. Darin werden die Gewissensfreiheit und die Gleichberechtigung von Mann und Frau verankert. Im Oktober wird erstmals das Parlament und im Dezember der Präsident des Landes durch demokratische Wahlen bestimmt.

September 2014 – Februar 2019: Im September 2014 belagert die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) die kurdisch geprägte Stadt Kobane in Nordsyrien. Das selbsternannte Kalifat kontrolliert eine Region so groß wie Großbritannien und eine Bevölkerung von rund acht Millionen Menschen. Vor allem dank amerikanischer Unterstützung gelingt es den Kurden, die Stadt zu befreien. Wenige Monate später schließen sie sich mit lokalen arabischen Milizen zu den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) zusammen und vertreiben den IS aus seinen Hochburgen. Im Februar 2019 haben sie an der irakischen Grenze das letzte Dorf Baghuz im Südosten Syriens eingekesselt. Nach der Niederringung der IS-Hochburgen Al-Rakka in Syrien und Mossul 2017 werden die Dschihadisten schließlich im März 2019 in Baghuz militärisch aufgerieben. Damit ist das letzte IS-Territorium im Konfliktraum zurückerobert worden.

ab 3. Jänner 2020: Verschärfte Spannungen der USA mit dem Iran: Nach dem tödlichen US-Luftschlag mit Hilfe einer Kampfdrohne gegen den iranischen General Kassem Soleimani, dem Chef der iranischen Al-Kuds-Einheit, einer Division der iranischen Revolutionsgarden, am Flughafen von Bagdad, eskalieren die Spannungen mit den USA. Das Mullah-Regime schwor den Amerikanern „bittere Rache“ und erklärte, dass man nun das eigene Atomprogramm vollumfänglich hochfahren und man sich nicht mehr an das internationale Abkommen von Wien halten werde.

Die Tötung des iranischen Generals Kassem Soleimani rechtfertigten die Vereinigten Staaten vor der UNO als „Akt der Selbstverteidigung“ gemäß der UNO-Charta.

Der US-Luftschlag auf Soleimani wurde von westlichen Beobachtern als klare Botschaft und als eine Warnung der Vereinigten Staaten an Teheran und seine verbündeten Milizen im betroffenen Krisenraum angesehen, um die bereits seit einiger Zeit intensivierten Attacken auf US-Einrichtungen (insbesondere die versuchte Erstürmung der amerikanischen Botschaft in Bagdad durch eine gezielt eingesetzte und gesteuerte Masse an aufgebrachten Demonstranten Ende Dezember 2019) einzustellen. Nachfolgende iranische Raketenangriffe auf amerikanische Stützpunkte im Irak ließ US-Präsident Trump unbeantwortet. Vielmehr wurden die Wirtschaftssanktionen gegen Teheran weiter verschärft.

Gezielte Attentate auf führende iranische Atomexperten und eine Reihe von Sabotageakten auf iranische Anlagen in der letzten Zeit verhärten die Vermutung Teherans, dass dahinter womöglich der israelische Geheimdienst mit Wissen der USA stecken könnte.

Der stark von konservativer Seite unter Druck geratene iranische Präsident Hassan Rohani erhofft sich vom neuen US-Präsidenten Joe Biden eine Rückkehr in das umstrittene internationale Atomabkommen mit dem Iran, das aber von den Hardlinern im Iran schon für „tot“ erklärt worden ist.

August – November 2020: Die Beziehung der Emirate, Bahrains und des Sudans mit Israel werden normalisiert. Ein offizieller diplomatischer Ausgleich zwischen Israel und Saudi-Arabien steht bevor.

Dezember 2020: Neun Jahre nach Beginn des Konflikts in Syrien kontrollieren die Aufständischen nur noch die Provinz Idlib. Präsident Baschar al-Assad ist entschlossen, auch die Region im Nordwesten mit Hilfe iranischer Milizen zurückzuerobern. Die Türkei will dies jedoch unbedingt verhindern.

Dezember 2020: US-Präsident Donald Trump verkündet, dass unter seiner Vermittlung die Beziehungen Israels zu Marokko normalisiert werden würden. Im Gegenzug für die Anerkennung Israels durch Marokko erfüllt der amerikanische Präsident dem nordafrikanischen Königreich einen langgehegten Wunsch: Er erkennt die Annexion der Westsahara durch Marokko an.

Nach dem Abzug der einstigen spanischen Kolonialmacht 1975 hatte Marokko den Großteil des Gebiets annektiert. Auf dem übrig gebliebenen Territorium errichtete die Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario ihre Demokratische Arabische Republik Sahara. Bis heute ist der völkerrechtliche Status des Gebiets ungeklärt.

Marokko hält weiterhin an der Zwei-Staaten-Lösung im weiter schwelenden Nahostkonflikt fest, heißt es.


Ab Jänner 2021: Die neue US-Administration von Präsident Joe Biden dürfte an den grundlegenden außenpolitischen strategischen Determinanten der Trump-Ära im Großraum mehr oder weniger festhalten, obwohl Biden bemüht ist, das internationale Atomabkommen mit dem Iran aktiv wiederzubeleben – trotz bewusster Bemühungen des Irans, ihr Atomprogramm – entgegen der Bestimmungen des Abkommens – zu beschleunigen.

Jüngste offenbar vom israelischen Geheimdienst lancierte Sabotageakte auf iranische nukleare Einrichtungen deuten darauf hin, dass Israel unter allen Umständen den Bau einer iranischen Atombombe verhindern möchte. 


Abgeschlossen: Anfang Mai 2021