GRAUZONEN-KONFLIKTE

EIN WIEDERBELEBTES PHÄNOMEN


Hybride, irreguläre bzw. asymmetrische Strategien der Kriegsführungsstrategien sind in der Vergangenheit in diversen Konflikten immer wieder gegen feindliche Kräfte zum Einsatz gebracht worden – mit unterschiedlichen Mitteln und in unterschiedlichen Epochen. In der Tat hat der Krieg seinem Wesen nach einen unveränderlichen Charakter, der es leichter macht, seine künftige Entwicklung zu studieren. Um davon überzeugt zu werden, müssen wir zur Definition dessen zurückkehren, was Gewalt ist: Die Anwendung möglichst organisierter und durchdachter militärischer Zwangsmethoden, um ein oder mehrere politische Ziele zu erreichen.

Carl von Clausewitz (1780-1831) definiert dies folgendermaßen: „Der Krieg ist ein Gewaltakt, der den Gegner zwingen soll, den eigenen Willen durchzusetzen.“ [1]

Seit der Schlacht bei Kadesch zwischen den Ägyptern und den Hethitern, der ersten bekannten großen Schlacht in der Geschichte der Menschheit, die um 1274 v. Chr. stattfand, bis zu den heutigen Konflikten bestehen Kriege systematisch aus dieser Opposition antagonistischer Kräfte, die den großen preußischen Denker zu der Aussage veranlassten, dass „der Krieg nichts anderes als ein Duell größeren Ausmaßes“ sei. Auf der Grundlage dieser Beobachtung lässt sich bereits jetzt ohne große Gefahr eines Irrtums sagen, dass der Krieg im 21. Jahrhundert - und in den kommenden Jahrhunderten - auch weiterhin dieses groß angelegte Duell gegnerischer Mächte sein wird. Wäre dies nicht der Fall, wäre Krieg einfach kein Krieg mehr, was bedeuten würde, dass die Menschheit andere Mittel als die Anwendung von Gewalt gefunden hätte, um einige der politischen Streitigkeiten beizulegen. Moralische Stärke, Qualität der Befehlsgewalt, Leistungsfähigkeit der Ausrüstung, Kultur des entschlossenen militärischen Handelns - man mag diese vier Faktoren der Überlegenheit in künftigen Konflikten als vereinbart oder sogar überholt empfinden. Dennoch spiegeln diese Faktoren das wider, was Krieg ist und immer sein wird: „ein Gewaltakt, der einem Gegner seinen Willen aufzwingen möchte“. Das ganze Paradoxon der Zukunft des Krieges ist die Unveränderlichkeit seiner Natur, trotz der tiefgreifenden Veränderungen in seinem politischen, kulturellen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Umfeld. Um die Zukunft des Krieges vorherzusagen, muss man die treibenden Kräfte hinter den Veränderungen verstehen, die die menschlichen Gesellschaften erschüttern, die zu Siegen ebenso wie zu den dunkelsten Katastrophen geführt haben. Der „ewige Frieden“ sei ein Traum, sagte schon der ehemalige Chef des preußischen Generalstabs, Helmuth von Moltke der Ältere (1800–1891). [2] Wir werden uns heute mit der Erwartung begnügen, dass menschliche Gesellschaften niemals aufgeben werden, sich auf den Krieg der Zukunft vorzubereiten - ob symmetrisch oder asymmetrisch, konventionell, irregulär oder hybrid. Diese Adjektive ändern nichts an seiner wahren Natur. Dies scheint weiterhin der beste Weg zu sein, ihn möglichst nicht Realität werden zu lassen.


Der Faktor der Zweideutigkeit ist in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem Markenzeichen verschiedener größerer Konflikte geworden – von Afghanistan und dem Irak bis zum Ukraine-Konflikt. Ambiguität hat zwei unterschiedliche Ausformungen: Die erste, die in der westlichen Militärpraxis seit 2002-2003 bekannt ist, ist die taktische Ambiguität oder die Unfähigkeit, den Feind auf dem Schlachtfeld eindeutig und leicht zu identifizieren. Die zweite Form der Ambivalenz ist die vor allem von Russland ausgehende und Anfang 2014 auf der Krim und danach im Donbass-Gebiet praktizierte Form der Ambiguität. Im letzten Fall ist die Herausforderung die, dass es keinen „versteckten Feind“ gibt. Stattdessen ist die Ambiguität politisch zu verstehen: Zu welchem Staat (falls vorhanden) gehören die angreifenden Kräfte tatsächlich?

Seit Anfang 2014 und der Annexion der Krim durch Moskau haben westliche Strategieplaner die Aktionen Russlands intensiv diskutiert und sie unter anderem als „nicht-linear“, als „Grauzonen-Konflikte“ oder als „hybride“ Kriegsführung bezeichnet. Ein Großteil der Kommentare hat sich auf die Details konzentriert, oft mit einem übergeordneten Schwerpunkt auf die nicht-militärischen Aspekte. So hat das NATO Defence College die zivile Widerstandsfähigkeit als einen wesentlichen Aspekt der Antwort auf hybride Kriegsführung bezeichnet - nicht nur zur Unterstützung militärischer Operationen, sondern auch als ein Schlüsselelement für die Abschreckung Russlands an sich. [3]

2010 wurde die südkoreanische Korvette „Cheonan“ auf hoher See torpediert, wobei 46 Menschen ums Leben kamen. Dieser Vorfall war zweifellos militärischer Natur, gewalttätig und raffiniert, doch wurde er nie von offizieller Seite eingestanden und führte zu keiner konventionellen militärischen Reaktion. Solche Aktionen, die unbestreitbar feindliche Handlungen sind, aber bewusst außerhalb der traditionellen Grenzen der Kriegsführung durchgeführt werden, werfen eine Frage rechtlicher Natur auf, auf die jedoch Antworten auf politisch-militärischer Ebene gefunden werden müssen. Moderne multilaterale Sicherheitsarchitekturen sind unter anderem darauf ausgerichtet, die politischen und militärischen Kosten bewaffneter Aggressionen zu erhöhen. So erklärt heute die UNO-Charta - ergänzt durch verschiedene Rechtsinstrumente - Krieg, zwar nicht für illegal, macht ihn aber doch zumindest schwieriger zu rechtfertigen. Darüber hinaus verspricht die nukleare Abschreckung einen inakzeptablen Schaden für die vitalen Interessen der Nationen, falls eine Macht im Ernstfall zu Atomwaffen greifen sollte.  Bündnisse wie die NATO und die EU verfügen über eine öffentlich gemachte Klausel der kollektiven Solidarität für den Fall eines Angriffs auf eines ihrer Mitglieder. Schließlich erschwert die intensive wirtschaftliche Interdependenz, auch zwischen antagonistischen Mächten, eine direkte militärische Konfrontation. Diese Mechanismen haben jedoch nicht dazu geführt, dass die Anwendung von Gewalt trotz der Beilegung von Streitigkeiten oder der Übernahme von Zusagen (territorialer, wirtschaftlicher, politischer Art) beendet wird. Aber in vielen Fällen, insbesondere in öffentlichen Räumen (Meer, Weltraum, Cyberspace), handelt es sich nicht mehr um eine militärische Konfrontation im herkömmlichen Sinne. Von der Sabotage von Unterseekabeln über Cyber-Angriffe bis hin zu massiven Fischraubzügen sind Operationen in der „Grauzone“ zu einem neuen Standard der Konfrontation geworden.  Die Begriffe „asymmetrische Kriegsführung“ und „hybride Kriegsführung“ fanden ihren Platz in der öffentlichen Debatte zur Zeit der militärischen Operationen Anfang des 21. Jahrhunderts  (Afghanistan, Irak, Sahelzone, Naher Osten usw.) und der „eingefrorenen“ Konflikte an der Peripherie der ehemaligen Sowjetunion. Bei dieser Gelegenheit wurden die Begriffe der „direkten Beteiligung ziviler Kämpfer an den Feindseligkeiten“, des strategischen Missverhältnisses und der beobachteten und theoretisierten Einfluss-Operationen, vom Trojanischen Pferd des Odysseus bis zu den Kriegen der Entkolonialisierung, wiederentdeckt. Seit jeher kennt die Militärgeschichte Operationen in solchen „Grauzonen-Konflikten“, die außerhalb des Friedens, aber unterhalb der Schwelle zu einem regulären Krieg anzusiedeln sind. [4]

Die Herausforderer der bisherigen pro-westlichen Weltordnung unter Führung der USA kennen sich sehr gut aus mit hybriden Kampfstrategien – insbesondere mit den Taktiken zur Informationskriegsführung und Propaganda. Die „grünen Männchen“ [5] auf der von Russland annektierten Krim-Halbinsel oder die chinesischen „Fischer“ im Südchinesischen Meer sind dafür beeindruckende Beispiele. [6]


Künftige entschlossene Antwort des Westens

Ohne eines unter anderem auch entschlossenen militärischen Elements wird ein nicht-militärisches Instrumentarium gegenüber einem potenziellen Feind nicht greifen. Eine klare militärische Reaktion beruht auf einer Regierung, die den Einsatz von Gewalt gegen einen eindringenden Gegner ausdrücklich gebilligt hat. Je größer die Unentschlossenheit auf Seiten der Verteidiger, desto größer sind die Siegeschancen der feindlichen Kräfte.

Russland ist es im Ukraine-Konflikt samt der Annexion der Krim gelungen, mit Hilfe von hybrider Kriegsführung seine machtpolitischen Ziele weitgehend zu erreichen. Wenn Moskau künftig eine solche Taktik neuerlich anderswo anwenden dürfte, so muss Russland mit einer umfassenden Gegenantwort des Westens rechnen, die vor allem auch eine massive militärische Komponente beinhaltet – zumindest wenn die politischen und militärischen Entscheidungsträger im Westen gemeinsam am selben Strang ziehen, um dieses Ziel zu erreichen. [7] Der Westen muss seine Handlungsfähigkeit in aktuellen Grauzonen erhöhen. Darauf legt die unlängst verabschiedete Doktrin zur offensiven Informationskriegsführung ihr Augenmerk. Sie ist der Schlüssel zur künftigen Weltraumstrategie der NATO.


Abgeschlossen: Anfang September 2020


Anmerkungen:

[1] Siehe dazu etwa: Siegfried Lautsch, „Der hybride Krieg - eine neue Qualität komplexer Kriegführung und multinationaler Bedrohung? Eine Einschätzung der russischen Sicht“. ÖMZ-Online v. 16.4.2018.

[2] Nicolas Le Nen, „RETOUR VERS LE FUTUR DE LA GUERRE: QUELS FACTEURS DE SUPÉRIORITÉ POUR DEMAIN?“. In: Revue Défense Nationale 3/2020, S. 44-49.

[3] Lukas Milevski, „THE STRATEGIC RESPONSE TO AMBIGUITY“. In: Orbis 3/2019, S. 376-390.

[4] Vgl. Christophe Prazuck, „EN DEÇÀ DE LA GUERRE, AU-DELÀ DE LA PAIX: LES ZONES GRISES“. In: Revue Défense Nationale 3/2020, S. 29-32.

[5] Vgl. A.S. Brychkov / V.L. Dorokhov / G.A. Nikonorov, „THE HYBRID NATURE OF FUTURE WARS AND ARMED CONFLICTS“. In: Military Thought 1/2019, S. 20-32.

[6] Kapil Bhatia, „COERCIVE GRADUALISM THROUGH GRAY ZONE STATECRAFT IN THE SOUTH  CHINA SEAS - China’s Strategy and Potential U.S. Options“. In: Joint Forces Quarterly 4/2018, S. 24-33. / Anthony P. Terlizzi, „THE CIVIL AFFAIRS FORCE -  A REIMAGINING“. In: Marine Corps Gazette 3/2020, S. 79-82.

[7] Siehe dazu etwa: Michael Hanson, „TO COUNTER RUSSIA, GET BACK TO BASICS“. In: Naval Institute Proceedings 5/2019, S. 50-55.