GRAUZONEN-KONFLIKTE
EIN WIEDERBELEBTES PHÄNOMEN
Der Faktor der Zweideutigkeit ist in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem Markenzeichen verschiedener größerer Konflikte geworden – von Afghanistan und dem Irak bis zum Ukraine-Konflikt. Ambiguität hat zwei unterschiedliche Ausformungen: Die erste, die in der westlichen Militärpraxis seit 2002-2003 bekannt ist, ist die taktische Ambiguität oder die Unfähigkeit, den Feind auf dem Schlachtfeld eindeutig und leicht zu identifizieren. Die zweite Form der Ambivalenz ist die vor allem von Russland ausgehende und Anfang 2014 auf der Krim und danach im Donbass-Gebiet praktizierte Form der Ambiguität. Im letzten Fall ist die Herausforderung die, dass es keinen „versteckten Feind“ gibt. Stattdessen ist die Ambiguität politisch zu verstehen: Zu welchem Staat (falls vorhanden) gehören die angreifenden Kräfte tatsächlich?
Seit Anfang 2014 und der Annexion der Krim durch Moskau haben westliche Strategieplaner die Aktionen Russlands intensiv diskutiert und sie unter anderem als „nicht-linear“, als „Grauzonen-Konflikte“ oder als „hybride“ Kriegsführung bezeichnet. Ein Großteil der Kommentare hat sich auf die Details konzentriert, oft mit einem übergeordneten Schwerpunkt auf die nicht-militärischen Aspekte. So hat das NATO Defence College die zivile Widerstandsfähigkeit als einen wesentlichen Aspekt der Antwort auf hybride Kriegsführung bezeichnet - nicht nur zur Unterstützung militärischer Operationen, sondern auch als ein Schlüsselelement für die Abschreckung Russlands an sich. [3]
2010 wurde die südkoreanische Korvette „Cheonan“ auf hoher See torpediert, wobei 46 Menschen ums Leben kamen. Dieser Vorfall war zweifellos militärischer Natur, gewalttätig und raffiniert, doch wurde er nie von offizieller Seite eingestanden und führte zu keiner konventionellen militärischen Reaktion. Solche Aktionen, die unbestreitbar feindliche Handlungen sind, aber bewusst außerhalb der traditionellen Grenzen der Kriegsführung durchgeführt werden, werfen eine Frage rechtlicher Natur auf, auf die jedoch Antworten auf politisch-militärischer Ebene gefunden werden müssen. Moderne multilaterale Sicherheitsarchitekturen sind unter anderem darauf ausgerichtet, die politischen und militärischen Kosten bewaffneter Aggressionen zu erhöhen. So erklärt heute die UNO-Charta - ergänzt durch verschiedene Rechtsinstrumente - Krieg, zwar nicht für illegal, macht ihn aber doch zumindest schwieriger zu rechtfertigen. Darüber hinaus verspricht die nukleare Abschreckung einen inakzeptablen Schaden für die vitalen Interessen der Nationen, falls eine Macht im Ernstfall zu Atomwaffen greifen sollte. Bündnisse wie die NATO und die EU verfügen über eine öffentlich gemachte Klausel der kollektiven Solidarität für den Fall eines Angriffs auf eines ihrer Mitglieder. Schließlich erschwert die intensive wirtschaftliche Interdependenz, auch zwischen antagonistischen Mächten, eine direkte militärische Konfrontation. Diese Mechanismen haben jedoch nicht dazu geführt, dass die Anwendung von Gewalt trotz der Beilegung von Streitigkeiten oder der Übernahme von Zusagen (territorialer, wirtschaftlicher, politischer Art) beendet wird. Aber in vielen Fällen, insbesondere in öffentlichen Räumen (Meer, Weltraum, Cyberspace), handelt es sich nicht mehr um eine militärische Konfrontation im herkömmlichen Sinne. Von der Sabotage von Unterseekabeln über Cyber-Angriffe bis hin zu massiven Fischraubzügen sind Operationen in der „Grauzone“ zu einem neuen Standard der Konfrontation geworden. Die Begriffe „asymmetrische Kriegsführung“ und „hybride Kriegsführung“ fanden ihren Platz in der öffentlichen Debatte zur Zeit der militärischen Operationen Anfang des 21. Jahrhunderts (Afghanistan, Irak, Sahelzone, Naher Osten usw.) und der „eingefrorenen“ Konflikte an der Peripherie der ehemaligen Sowjetunion. Bei dieser Gelegenheit wurden die Begriffe der „direkten Beteiligung ziviler Kämpfer an den Feindseligkeiten“, des strategischen Missverhältnisses und der beobachteten und theoretisierten Einfluss-Operationen, vom Trojanischen Pferd des Odysseus bis zu den Kriegen der Entkolonialisierung, wiederentdeckt. Seit jeher kennt die Militärgeschichte Operationen in solchen „Grauzonen-Konflikten“, die außerhalb des Friedens, aber unterhalb der Schwelle zu einem regulären Krieg anzusiedeln sind. [4]
Die Herausforderer der bisherigen pro-westlichen Weltordnung unter Führung der USA kennen sich sehr gut aus mit hybriden Kampfstrategien – insbesondere mit den Taktiken zur Informationskriegsführung und Propaganda. Die „grünen Männchen“ [5] auf der von Russland annektierten Krim-Halbinsel oder die chinesischen „Fischer“ im Südchinesischen Meer sind dafür beeindruckende Beispiele. [6]
Künftige entschlossene Antwort des Westens
Ohne eines unter anderem auch entschlossenen militärischen Elements wird ein nicht-militärisches Instrumentarium gegenüber einem potenziellen Feind nicht greifen. Eine klare militärische Reaktion beruht auf einer Regierung, die den Einsatz von Gewalt gegen einen eindringenden Gegner ausdrücklich gebilligt hat. Je größer die Unentschlossenheit auf Seiten der Verteidiger, desto größer sind die Siegeschancen der feindlichen Kräfte.
Russland ist es im Ukraine-Konflikt samt der Annexion der Krim gelungen, mit Hilfe von hybrider Kriegsführung seine machtpolitischen Ziele weitgehend zu erreichen. Wenn Moskau künftig eine solche Taktik neuerlich anderswo anwenden dürfte, so muss Russland mit einer umfassenden Gegenantwort des Westens rechnen, die vor allem auch eine massive militärische Komponente beinhaltet – zumindest wenn die politischen und militärischen Entscheidungsträger im Westen gemeinsam am selben Strang ziehen, um dieses Ziel zu erreichen. [7] Der Westen muss seine Handlungsfähigkeit in aktuellen Grauzonen erhöhen. Darauf legt die unlängst verabschiedete Doktrin zur offensiven Informationskriegsführung ihr Augenmerk. Sie ist der Schlüssel zur künftigen Weltraumstrategie der NATO.
Abgeschlossen: Anfang September 2020
Anmerkungen:
[1] Siehe dazu etwa: Siegfried Lautsch, „Der hybride Krieg - eine neue Qualität komplexer Kriegführung und multinationaler Bedrohung? Eine Einschätzung der russischen Sicht“. ÖMZ-Online v. 16.4.2018.
[2] Nicolas Le Nen, „RETOUR VERS LE FUTUR DE LA GUERRE: QUELS FACTEURS DE SUPÉRIORITÉ POUR DEMAIN?“. In: Revue Défense Nationale 3/2020, S. 44-49.
[3] Lukas Milevski, „THE STRATEGIC RESPONSE TO AMBIGUITY“. In: Orbis 3/2019, S. 376-390.
[4] Vgl. Christophe Prazuck, „EN DEÇÀ DE LA GUERRE, AU-DELÀ DE LA PAIX: LES ZONES GRISES“. In: Revue Défense Nationale 3/2020, S. 29-32.
[5] Vgl. A.S. Brychkov / V.L. Dorokhov / G.A. Nikonorov, „THE HYBRID NATURE OF FUTURE WARS AND ARMED CONFLICTS“. In: Military Thought 1/2019, S. 20-32.
[6] Kapil Bhatia, „COERCIVE GRADUALISM THROUGH GRAY ZONE STATECRAFT IN THE SOUTH CHINA SEAS - China’s Strategy and Potential U.S. Options“. In: Joint Forces Quarterly 4/2018, S. 24-33. / Anthony P. Terlizzi, „THE CIVIL AFFAIRS FORCE - A REIMAGINING“. In: Marine Corps Gazette 3/2020, S. 79-82.
[7] Siehe dazu etwa: Michael Hanson, „TO COUNTER RUSSIA, GET BACK TO BASICS“. In: Naval Institute Proceedings 5/2019, S. 50-55.
Weiterführende LINKS:
Wiener Strategiekonfernz - Your Intranet - ÖMZ
Essentials - Hybrid Warfare - NATO
Topic: NATO's response to hybrid threats - NATO
Explainer: what is ‘hybrid warfare’ and what is meant by the ‘grey zone’?
Hybrid War: Old Concept, New Techniques | Small Wars Journal
What is Hybrid Warfare? - jstor
Hybrid warfare: the new face of global competition
What is Hybrid Warfare? Non-Linear Combat in the 21st Century
Russia’s hybrid warfare toolkit has more to offer than propaganda
Russian Hybrid Warfare and Extended Deterrence in Eastern Europe
The Russian hybrid warfare strategy – neither Russian nor strategy
PUTIN'S INFORMATION WARFARE IN UKRAINE: SOVIET ORIGINS OF RUSSIA'S HYBRID WARFARE
Russia’s Geopolitical Campaign: Hybrid Warfare in the Gray Zone
China hybrid warfare – The Diplomat
China updates its ‘Art of (Hybrid) War’
Opposing China's 'hybrid warfare' - Taipei Times
Introduction ‘hybrid warfare in Asia: its meaning and shape’