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Ausgabe 04/2021


Wulf Lapins/Enes Velija

Albanischer Einheitsstaat ohne Wirkkraft - Fernziel EU ohne innovative Schubkraft - Teil 2

Der Beitrag ist eine Fortsetzung zu „Suche und Versuchungen um nationale Größe auf dem Westbalkan - Mythen, Akteure, Implikationen“ in der ÖMZ 03/2021 und setzt mit dieser Analyse die Problematisierung der groß- bzw. panalbanischen Denkfigur fort.
Das Sicherheits- und Machtvakuum, das sich in Konsequenz des schleppenden EU-Integrationsprozesses vermehrt herausbildet, wird seit einigen Jahren mit der Hinauszögerung der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen durch französische, niederländische und dänische Vetos verstärkt. Externe Mächte, wie die USA, die Volksrepublik China, die Russische Föderation und die Türkei stoßen mit ihren jeweiligen disparaten Interessen hinein und schaffen Fakten in sozioökonomischen, medialen und kulturell-religiösen Bereichen, die eines Tages im Rahmen der EU-Integration berücksichtigt werden müssen. Im März 2020 gaben die Europaminister ihre Zustimmung zur Eröffnung der Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien. Doch die spärlich ausgebauten Gesundheits- und Sozialsysteme der Westbalkanstaaten sind mit der Coronakrise stark überfordert. Mit Blick auf nationale Alleingänge im Krisenmanagement einiger EU-Mitgliedstaaten, klagen die Westbalkanstaaten über die mangelnde Solidarität und Hilfe der EU. Diese Wahrnehmung gefährdet nicht nur die Glaubwürdigkeit und den Zuspruch gegenüber der EU, sondern bietet externen Mächten eine neuerliche Angriffsfläche, um ihren Einfluss auszudehnen. Das integrierte Europa hat im Rahmen seiner Beitrittsagenda hinreichend Gestaltungsmacht, großstaatliche Visionen auf dem Westbalkan mit seinem Narrativ der Friedensstiftung auszutrocknen. Es waren diese historischen Schritte vom europäischen Gegeneinander zum Gegenüber, vom Gegenüber zum Nebeneinander und schließlich vom Nebeneinander zum Miteinander, die zur Herausbildung einer europäischen Identität führen könnten. Doch die EU befindet sich selber in schwerem Wasser. Die ökonomischen Implikationen der Corona-Pandemie, der Ausbruch aus dem Rechtsstaatsgefüge der Kopenhagener Kriterien einiger seiner Mitgliedsländer, die kaum zu harmonierenden Interessen zwischen den Mitgliedstaaten im Norden und im Süden, im historischen Westen und im neuen Osten sowie insbesondere die mangelnde Fähigkeit des Europäischen Rates wie auch der Europäischen Kommission eine gemeinsame Weltpolitik vorzugeben, unfähig zur Weltpolitik, sowie die immer schwierigeren Budgetverhandlungen, verengen eine strategische Sichtweise in den Hauptstädten und in Brüssel. Vor diesem Hintergrund entfaltet die EU für den Westbalkan gegenwärtig keine innovative Schubkraft.
Der Mythos und die groß- bzw. panalbanische Denkfigur widerhallt noch in der eigenen Echokammer. Die Politiken des Westbalkans balancieren insofern auf dem Schwebebalken des ihnen zuwinkenden westeuropäischen Posthumanismus mit flüssigen wie fluiden Identitäten und den an ihnen zerrenden tradierten manifesten Narrativen. Wer von den beiden wird hier den politischen Nährboden der Zukunftsgestaltung düngen?Heute zeigt eine Vielzahl von Konflikten und kritischen Zerfallsszenarien, dass es neben Grenzziehungen, Verträgen und Verfassungen, doch auch die Gründungsmythen, Sprache, Kultur, Religion, ethnische Zugehörigkeit und Ideologie sind, welche ein Identitätsgefühl begründen.