HYBRIDE TAKTIKEN WEISSRUSSLANDS GEGENÜBER DER EU

Untertitel

Das weißrussische Regime von Präsident Alexander Lukaschenko ließ in jüngster Vergangenheit wiederholt große Menschengruppen an Flüchtlingen zur polnischen Grenze. Dabei handelte es sich offenbar um eine gezielte Provokation durch die weißrussischen Sicherheitsbehörden. Die Migranten hatten etwa am 8. November 2021 vergeblich versucht, die Grenze in die EU zu durchbrechen. Ziel Lukaschenkos war es, die Migranten als Druckmittel zu missbrauchen, um die EU von ihren harten Sanktionierungsmaßnahmen gegenüber dem weißrussischen Regime abzubringen. Rückhalt erhielt Lukaschenko durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin, der nunmehr mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine im Fokus scharfer westlicher Kritik steht.

Angesichts der sich dramatisch verschlechternden Flüchtlingslage an der polnisch-belarussischen Grenze forderte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die EU-Mitgliedstaaten auf, die erweiterte Sanktionsregelung gegen die belarussischen Behörden, „die für diesen hybriden Angriff verantwortlich sind, zu billigen“. Der Beitrag versucht die Ereignisse nachzuzeichnen.


Die EU und besonders die betroffenen Nachbarstaaten Lettland, Litauen und Polen warfen Lukaschenko vor, in organisierter Form Flüchtlinge aus Krisenregionen an die EU-Außengrenze bringen zu lassen, um Druck auf die EU auszuüben. Der Grenzstreit führte unter anderem dazu, dass Lettland am 11. August 2021 den Ausnahmezustand verkündete. Anfang November 2021 wurde er bis zum 10. Februar 2022 verlängert. Die Maßnahme ermächtigte den lettischen Grenzschutz, illegal aus Weißrussland eingereiste Migranten zurückzuschicken. Bis Mitte Oktober 2021 wurden so nach Angaben des Innenministeriums fast 1.800 Personen von einem illegalen Übertritt der Grenze zu Weißrussland abgehalten.

Anfang November spitze sich die Lage auch an der Grenze zu Polen zu. Am 8. November 2021 hatten größere Gruppen von Migranten in der Nähe von Kuznica vergeblich versucht, die EU-Außengrenze von weißrussischer Seite aus zu durchbrechen. Nach Erkenntnissen der polnischen Behörden hielten sich zu dem Zeitpunkt zwischen 3.000 und 4.000 Migranten im weißrussisch-polnischen Grenzgebiet auf. Das weißrussische Regime ermunterte die Migranten dazu, indem es ihnen versprach, die Grenze zur EU stünde ihnen offen. Der polnische Grenzschutz hingegen reagierte mit Grenzschließungen und Tränengas, um die Flüchtlinge aufzuhalten.
Nach Erkenntnissen der polnischen Grenzschutzbehörden hielten sich Mitte November 2021 zwischen 3.000 und 4.000 Geflüchtete im belarussisch-polnischen Grenzgebiet auf – viele kamen aus Krisengebieten wie Afghanistan und dem Irak. Auf dem Staatsgebiet des autoritär regierten Nachbarlandes waren insgesamt sogar mehr als 10.000 Menschen, die die Grenze überqueren wollten – darunter auch Frauen und Kinder.

Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki sah die EU durch den Andrang Tausender Migranten und Migrantinnen in Gefahr. „Heute steht die Stabilität und Sicherheit der gesamten EU auf dem Spiel“, schrieb Morawiecki am 9. November 2021 auf Twitter. Man werde sich nicht einschüchtern lassen und den „Frieden in Europa“ gemeinsam mit den Partnern der NATO und der EU verteidigen, so Morawiecki weiter.

Die Regierung in Minsk wies hingegen Anschuldigungen zurück, den Andrang von Geflüchteten an der Grenze gezielt herbeizuführen.


Der zynische Machtpoker um die Migranten

Offensichtlich wurden den aus dem großteils erweiterten Mittleren Osten stammenden Flüchtlingen bewusst Hoffnungen gemacht, um das ersehnte Ziel „Deutschland“ zu erreichen.

Lukaschenko lockte Migranten gezielt mit gesponserten Flügen nach Weißrussland, um sie später mit Hilfe seiner Sicherheitskräfte weiter an die Grenze zur EU zu führen. Dass täglich Hunderte von Migranten mit Flugzeugen aus Istanbul, Damaskus und Dubai in Minsk landeten, konnte schließlich nicht mehr geheim gehalten werden. Im Oktober 2021 bezeichnete der deutsche Außenminister Heiko Maas Lukaschenko als „Chef eines staatlichen Schleuserrings“.

Tausende Migranten drängen nach Europa und rufen „German! German!“. Vielen wird Glauben gemacht, dass wenn sie nur das deutsche Staatsgebiet erreichten, dann hätten sie es geschafft und seien in Sicherheit und Wohlstand angekommen. „Dies ist das Ergebnis falscher Signale und einer gescheiterten Politik, die nun zur zweiten großen EU-Flüchtlingskrise innerhalb weniger Jahre zu führen drohen“, schrieb etwa die Neue Zürcher Zeitung am 10.11.2021.[1] Der weißrussische Machthaber Alexander Lukaschenko mochte die Migration zwar befeuern – aber die überzogenen und irrigen Erwartungen der Migranten an Deutschland hatte die deutsche Bundesregierung aufgeweckt.

Die NATO spricht bereits von hybrider Kriegsführung.

Die gewaltsame Zurückdrängung von Asylbewerbern ist eigentlich nach der Genfer Flüchtlingskonvention und dem europäischen Recht verboten. Dennoch wird die Praxis nicht nur in Griechenland und Polen längst von vielen stillschweigend hingenommen.


Lukaschenko droht mit Gasstop in die EU

Lukaschenko reagierte auf die Drohungen der EU nach verschärften Sanktionen gegen Weißrussland mit der Gegendrohung: „Und wenn wir das Gas (nach Westen in die EU) abstellen? Wir beheizen Europa, und sie drohen uns noch damit, die Grenze zu schließen“, argumentierte Lukaschenko. Durch Weißrussland verläuft die wichtige russische Pipeline Jamal–Europa. 

Polen schränkte währenddessen den Zugang zum Grenzgebiet mit Weißrussland, in dem sich seit Wochen eine humanitäre Krise abspielte, weiter ein. Die am 30. November 2021 von Präsident Andrzej Duda unterzeichnete Regelung ermöglichte es der polnischen Regierung, den Zugang zu bestimmten Teilen der drei Kilometer breiten Grenzregion je nach Lage zu sperren. Damit wurde der umstrittene Ausnahmezustand de facto verlängert.
Nach polnischem Recht kann der Ausnahmezustand nur für eine Dauer von maximal drei Monaten verhängt werden. Warschau hatte ihn im September 2021, als Reaktion auf Tausende Menschen die über Weißrussland in die Europäische Union gelangen wollen, ausgerufen.


Kritik von Menschenrechtsorganisationen an harter Haltung der EU

Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 sollte eigentlich den Schutz vor Rechtlosigkeit der Betroffenen verhindern. Doch die harte Haltung der EU, die an den betroffenen Grenzabschnitten keine Migranten aus Weißrussland über die Grenze ließ, ließ aus Sicht von Menschenrechtsorganisationen an der „Gültigkeit der Konvention ebenso wie an ihrer Umsetzung“ zweifeln. Den Schutzsuchenden würde ein individuelles Asylverfahren von der EU verwehrt, hieß es. Kritiker sprachen von einer „systematischen Politik der Entrechtung“ von Seiten der EU. Das Argument der „Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit“ der EU greife angesichts der prekären Lage an den EU-Außengrenzen zu Weißrussland nicht mehr, hieß es. Die „Abschottungslogik“ der EU müsse ein Ende finden, forderten Menschenrechtsaktivisten.[2]

Im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine seit Ende Februar 2022 öffnete Polen im Gegensatz zur Ablehnung gegenüber Flüchtlingen aus Afghanistan, Irak oder Syrien seine Grenze für aus ihrem Land vertriebene Ukrainerinnen und Ukrainer und verfolgt eine „Strategie der Willkommenskultur“.

Die internationale Berichterstattung über den blutigen Ukraine-Krieg hat seit Ende Februar 2022 weitgehend die Flüchtlingsfrage insbesondere an der weißrussisch-polnischen Grenze in den Schatten gestellt. Doch noch immer versuchen täglich Migranten unter Lebensgefahr nach Europa zu gelangen – unter anderem über die Grenzen Weißrusslands.

Eine tendenzielle Reduzierung des Grenzschutzes an den Außengrenzen der EU wäre ein fatales Signal unter anderem an den autoritären weißrussischen Machthaber Lukaschenko, weiter in organisierter Form Migranten aus Krisenregionen einzufliegen, um sie dann in die EU zu schleusen und so die Union zu untergraben.


Abgeschlossen: Anfang Mai 2022


Anmerkungen:

[1] „Für das Chaos an der polnischen Grenze ist die deutsche «Willkommenskultur» mitverantwortlich“. In: NZZ v. 10.11.2021.

[2] Maximilian Pichl, „EUROPAS ABSCHIED VOM ASYLRECHT: DAS DRAMA AN POLENS GRENZE“. Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2022, S. 17-20.