DIE LAGE IN ÄTHIOPIEN

Update Mitte September 2022

Untertitel

Der Vielvölkerstaat Äthiopien wird nach wie vor von einem Bürgerkrieg um die Konfliktregion Tigray und einer instabilen innenpolitischen Lage belastet. Es herrscht seit dem Bau des Grand Ethiopian Renaissance Dam (Gerd) durch Addis Abeba Streit und Unstimmigkeit mit den Nil-Anrainerländern Sudan und vor allem mit Ägypten. Hier eine Aufarbeitung der Geschehnisse.


Schon die äthiopischen Kaiser begannen vor fast hundert Jahren einen Damm zu planen. Umgesetzt wurde die Idee dann erst unter Meles Zenawi, dem autoritär regierenden Ministerpräsidenten, der kurz nach dem Baubeginn 2011 verstarb.[1] 2011 startete Äthiopien mit dem Bau des Staudamms. Alle Proteste und Drohungen der beiden Nil-Anrainer Sudan und Ägypten hielten Äthiopien aber nicht davon ab, das Großprojekt voranzutreiben. Jahrelange Bemühungen der Afrikanischen Union, der USA und der UNO zur Aushandlung fester Regeln für die Nutzung des Nilwassers blieben erfolglos. Besonders in Ägypten geht die Sorge um, dass sich durch den äthiopischen Staudamm damit die ohnehin knappe Wassermenge weiter reduziert, die an der ägyptischen Grenze ankommt. Schon mehrfach hat der ägyptische Präsident Abdelfatah al-Sisi daher Äthiopien mit Krieg gedroht.

Ägypten bezieht mehr als 90 Prozent seines Wassers aus dem Nil - und 85 Prozent dieses Wassers stammen aus Äthiopien. Der Blaue Nil, der im Tana-See im äthiopischen Hochland entspringt und maßgeblich durch den im Juni einsetzenden Monsun gespeist wird, führt weit mehr Wasser als der Weiße Nil und ist damit essenziell für die Wasserversorgung Ägyptens. Jede Reduktion bedroht die Landwirtschaft des Landes, das für die Ernährung seiner mehr als 100 Millionen Einwohner ohnehin schon auf kostspielige Getreideimporte angewiesen ist.[2]

Nach Meinung politischer Experten gehe es längst nicht nur um Wasser, sondern um regionale Vormachtstellung.

Kairo und Khartum ringen seit Jahren um verbindliche Regeln zur Nutzung des Nilwassers und werfen Addis Abeba vor, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die letzten trilateralen Verhandlungen unter Vermittlung der AU endeten im April 2021 ergebnislos. Auf Drängen Ägyptens befasste sich der UNO-Sicherheitsrat im September 2021 erstmals mit dem Streit. Am Ende forderte er die beteiligten Staaten aber nur auf, eine einvernehmliche Lösung zu suchen.

Bestehende Verträge in Bezug auf den Nil anerkennt Äthiopien nicht. Durch ein Abkommen von 1929 fühlt es sich nicht gebunden, da dieses während der britischen Kolonialzeit ohne seine Beteiligung geschlossen worden war. Auch den Vertrag von 1959, in dem Ägypten und der Sudan das alleinige Recht an dem Fluss beanspruchen, lehnt Addis Abeba ab. Laut der Vereinbarung stehen Ägypten jährlich 55 Milliarden Kubikmeter und dem Sudan 18,5 Milliarden Kubikmeter Wasser zu - Äthiopien aber nichts.

Inzwischen sind nach äthiopischen Angaben 88 Prozent der Bauarbeiten an der Talsperre abgeschlossen, die mit einer Kapazität von 6,4 Gigawatt einmal Afrikas größtes Wasserkraftwerk werden soll.[3] Nachdem Addis Abeba im Juni 2020 mit dem Befüllen des Stausees begonnen hatte, steht dieses Jahr die dritte Füllung an. Wie ägyptische Medien berichten, zeigen Satellitenbilder, dass bereits mehrere kleinere Inseln im See verschwunden sind und sich das Wasser weiter ausbreitet.

Bis der See den endgültigen Pegelstand von 640 Meter über dem Meer erreicht hat, dürfte es noch mindestens vier Jahre dauern. Bis dahin gefährdet die Füllung des Sees nicht die Wasserversorgung Ägyptens, da die Regenfälle im äthiopischen Hochland in den vergangenen Jahren üppiger waren als üblich. Insbesondere Kairo sorgt sich, dass im Fall einer mehrjährigen Dürre das Wasser so knapp werden könnte, dass auch der Nassersee am Assuan-Staudamm in Oberägypten nicht mehr als Reserve reiche.


Äthiopien weiter unnachgiebig

Für Äthiopien kommen Zugeständnisse im Streit um den Damm nicht infrage. Diese würden als Verletzung der Souveränität des Landes gesehen, heißt es. Während der Verhandlungen mit Kairo und Khartum habe die Opposition der äthiopischen Regierung vorgeworfen, die Bürger zu verraten, nachdem diese solch große Opfer für den Bau erbracht hätten. Heute, da Ministerpräsident Abiy Ahmed durch den Aufstand in Tigray geschwächt sei, seien für ihn Zugeständnisse bei dem Damm noch schwieriger, da er den Damm als einen seiner größten Erfolge hervorheben möchte.

Für viele Äthiopier ist der Damm eine Sache des nationalen Stolzes. Nachdem die Weltbank und andere internationale Finanzinstitutionen es wegen des ungelösten Streits mit Ägypten abgelehnt hatten, das Großprojekt zu finanzieren, brachte die Bevölkerung die 4,8 Milliarden Dollar für den Bau durch den Kauf von Anleihen selber auf. Die Regierung verspricht ihren Bürgern nicht weniger als die Renaissance des Landes, wenn das Kraftwerk ans Netz geht. Künftig sollen dadurch 60 Prozent der 115 Millionen Einwohner mit Elektrizität versorgt werden.[4] Dank der Talsperre wird Äthiopien nicht nur große Teile des Landes erstmals mit Elektrizität versorgen, sondern sogar Strom in den Sudan exportieren können. Addis Abeba verspricht dem Nachbarn zudem, dass der nahe der Grenze gelegene Damm ein Ende der Überschwemmungen im Niltal bedeute sowie Schutz vor der Versandung des flussabwärts gelegenen Roseires-Stausees bieten werde. Wegen dieser Vorteile sieht Khartum das Projekt auch nicht ganz so kritisch wie Kairo.[5]

Mit fortlaufender Fertigstellung des umstrittenen Staudamms könne Kairo nicht viel mehr tun, als zu versuchen, international um Unterstützung zu werben und diplomatischen Druck aufzubauen, meinen Experten.[6]

So hat sich Saudi-Arabien, das als Investor in Äthiopien einiges Gewicht hat, hinter Ägyptens Position gestellt. Es bleibe aber die Frage, ob diplomatischer Druck allein ausreiche, um Äthiopien zurück an den Verhandlungstisch zu bringen.

Äthiopiens Beharren darauf, den Damm zu füllen, bevor eine solide Vereinbarung über die Füllung und den Betrieb erzielt wird, wird von Kairo und Khartum weiterhin zurückgewiesen. Eine Lösung des Konflikts ist nicht zu erwarten.[7]

 

Laufende Kämpfe gegen die somalische al-Shabaab-Miliz an der südöstlichen Grenze

Die äthiopische Armee hat nach eigenen Angaben im Grenzgebiet zwischen Somalia und Äthiopien den Einfall von Kämpfern der islamistischen al-Shabaab-Miliz in der äthiopischen Region Somali Ende Juli/Anfang August 2022 abgewehrt. Dabei kamen rund 800 islamistische Kämpfer der Miliz ums Leben, darunter auch hochrangige Anführer.

Das Nachbarland Somalia wird seit Jahren von Anschlägen der Terrorgruppe al-Shabaab auf Sicherheitskräfte und Zivilisten erschüttert. Die Friedensmission der Afrikanischen Union soll für Stabilität sorgen. Die meisten Truppen dafür stellt das Nachbarland Äthiopien.

Ziel der al-Shabaab-Miliz war und ist offensichtlich das Schmieden einer strategischen Allianz mit der „Oromo-Befreiungsarmee“ (OLA). Diese gilt für die Regierung in Addis Abeba als Terrorgruppe und wird für die Gewalt im Westen Äthiopiens verantwortlich gemacht. Die OLA ist eine Splittergruppe der politischen Partei Oromo Liberation Front, die mehr Autonomie und Selbstbestimmung für die Oromo fordert. Die Oromo bilden mit rund 35 Millionen Menschen die größte ethnische Gruppe im Vielvölkerstaat Äthiopien. Bereits seit dem 19. Jahrhundert ist es jedoch die amharische Minderheit, die das Land politisch dominiert.[8]

Äthiopien mit seinen 115 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern galt lange als Stabilitätsanker der Region. Aber seit rund eineinhalb Jahren streitet die Zentralregierung in Addis Abeba mit der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) um die Kontrolle der nördlichen Region.


WHO-Chef wirft Weltgemeinschaft im Falle der Tigray-Krise Untätigkeit vor

Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, kritisierte am 17. August 2022 vor der Presse die Tatenlosigkeit der Weltgemeinschaft gegenüber den Ereignissen im Tigray-Konflikt. Dabei sprach der WHO-Chef gar von „Rassismus“. Die schlimmste humanitäre Krise in der Welt erhalte nicht dieselbe internationale Aufmerksamkeit wie der Ukraine-Krieg. „Vielleicht ist der Grund die Hautfarbe der Menschen“, so Tedros, der aus der Tigray-Region stammt.

Schon im vergangenen April 2022 hatte Ghebreyesus die Versäumnisse der Weltgemeinschaft in Äthiopien angeprangert, wo sich „niemand dafür interessieren würde“, was in der betroffenen Region geschehe.

Die WHO fordert mehr als 123 Millionen Dollar von der Weltgemeinschaft, um die Gesundheitsprobleme in Äthiopien zu lösen. Tausende Menschen sind nach UNO-Angaben infolge der Kämpfe in der Region getötet worden. Über sechs Millionen Menschen würden humanitäre Hilfe benötigen, hieß es.

Die äthiopische Regierung rief mittlerweile dazu auf, so schnell wie möglich ein formelles Waffenstillstandsabkommen für die Tigray-Region zu schließen, um die Wiederaufnahme der Grundversorgung in dem vom Krieg gezeichneten Gebiet zu ermöglichen. Ein im Juni 2022 eingesetzter Ausschuss, der die Möglichkeit von Gesprächen mit den tigrayischen Rebellen ausloten sollte, erklärte, er habe einen „Friedensvorschlag“ ausgearbeitet, um den im November 2020 ausgebrochenen Krieg zu beenden.

Die Tigray People's Liberation Front (TPLF) wies die Forderung des Ausschusses als Versuch der „Verschleierung“ zurück und erklärte, die Regierung von Premierminister Abiy Ahmed habe keinen wirklichen „Appetit“ auf einen Dialog gezeigt. Die TPLF hatte lange darauf bestanden, dass die Grundversorgung in der Region wiederhergestellt werden müsse, bevor ein Dialog beginnen könne.[9]

Seit der Ausrufung eines „humanitären Waffenstillstands“ Ende März hatten die Kämpfe in Nordäthiopien zwischenzeitlich nachgelassen, sodass die dringend benötigten internationalen Hilfskonvois nach drei Monaten Unterbrechung wieder nach Tigray fahren konnten. Allerdings nahmen die Gefechte beider Seiten gegen Ende des Berichtszeitraums wieder zu. Die nördlichste Region Äthiopiens leidet unter einer schweren Nahrungsmittelknappheit und hat kaum noch Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Strom, Kommunikation und Bankwesen.

Ein Ende des Konflikts scheint nicht in Sichtweite.


Abgeschlossen: Mitte September 2022


Anmerkungen:

[1] Die große Kraftanstrengung eines armen Volkes. In: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG-Online v. 21.2.2022: https://www.sueddeutsche.de/politik/aethiopien-damm-gerd-1.5533655

[2] Der Kampf ums Nilwasser. In: DER SPIEGEL-Online v. 24.7.2021: https://www.spiegel.de/ausland/nil-staudamm-warum-sich-aegypten-der-sudan-und-aethiopien-um-das-nilwasser-streiten-a-0f012290-8d7d-49ef-9880-71bc832025c4

[3] Grand Ethiopian Renaissance Dam Project, Benishangul-Gumuz. In: WATER TECHNOLOGY.NET: https://www.water-technology.net/projects/grand-ethiopian-renaissance-dam-africa/

[4] Äthiopien beginnt mit Stromproduktion am umstrittenen Nil-Staudamm. In: DEUTSCHE WELLE-Online v. 20.2.2022: https://www.dw.com/de/%C3%A4thiopien-beginnt-mit-stromproduktion-am-umstrittenen-nil-staudamm/a-60846616

[5] The Grand Ethiopian Renaissance Dam (GERD) Hydroelectric Project. In: NS-ENERGY-BUSINESS.COM: https://www.nsenergybusiness.com/projects/the-grand-ethiopian-renaissance-dam-gerd-hydroelectric-project/

[6] The controversy over the Grand Ethiopian Renaissance Dam. In: BROOKINGS v. 5.8.2020: https://www.brookings.edu/blog/africa-in-focus/2020/08/05/the-controversy-over-the-grand-ethiopian-renaissance-dam/

[7] Aktualisierungen von Äthiopiens 5 Mrd. USD schwerem Grand-Renaissance-Staudammprojekt. In: CR CONSTRUCTION REVIEW ONLINE v. 13.5.2022: https://de.constructionreviewonline.com/project-timelines/ethiopias-us-5bn-grand-renaissance-dam-project-updates/

[8] ‘Ethiopia’s other conflict’: what’s driving the violence in Oromia? In: THE CONVERSATION.COM v. 20.7.2022: https://theconversation.com/ethiopias-other-conflict-whats-driving-the-violence-in-oromia-187035

[9] WHO chief: 'Colour of skin' may be why Tigray crisis not getting attention. In: REUTERS.COM v. 17.8.2022: https://www.reuters.com/world/africa/who-chief-colour-skin-may-be-why-tigray-crisis-not-getting-attention-2022-08-17/

DIE LAGE IN ÄTHIOPIEN

Untertitel

Nach den langen Jahren der marxistisch-kommunistischen Diktatur von Haile Mengistu (der 1974 das Kaiserreich stürzte) und den blutigen Ogaden-Kriegen gegen Somalia und Eritrea hat Äthiopien unter der Führung von Premierminister Meles Zenawi (1995-2012) eine tiefgreifende wirtschaftliche Transformation durchlaufen - mit Wachstumsraten von konstant über 7% pro Jahr in den letzten 15 Jahren, was eine Vervierfachung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) pro Kopf ermöglicht hat. Das Land mit seinen mehr als 115 Millionen Einwohnern scheint einer der vielversprechendsten Märkte in Afrika südlich der Sahara zu sein. Die Verleihung des Friedensnobelpreises im Herbst 2019 an Abiy Ahmed, den seit April 2018 amtierenden äthiopischen Regierungschef, ist eine gewisse Anerkennung für die Bemühungen dieses Landes, das Mitte der 1980er-Jahre von verheerenden Hungersnöten heimgesucht wurde und als Symbol für das Leid des afrikanischen Kontinents stand. Aber Äthiopien, das die Anerkennung der internationalen Gemeinschaft gewonnen hat, bleibt eine fragile Föderation und die damals angekündigten Wahlen könnten zentrifugale Tendenzen verschärfen und zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, die dramatische Auswirkungen auf ganz Afrika hätten, betonen Experten.

Äthiopien wurde 1995 per Verfassung zu einem ethnischen Bundesstaat“, in dem den verschiedenen Ethnien weitgehende Selbstbestimmungsrechte zugesprochen wurden. Kleinere Minderheiten wurden dabei jedoch nicht berücksichtigt. Ihre Autonomiebestrebungen wurden unterdrückt. Dazu kamen Spannungen zwischen den einzelnen Regionen, aufgrund von Gebietsansprüchen und ethnischen Rivalitäten. Bis heute bergen das Zusammenleben der Ethnien und das Ausbalancieren ihrer Interessen Konfliktpotenzial.[1]

Ethnischen Spannungen zwischen der Regionalregierung der Region Tigray und der Zentralregierung von Ministerpräsident Abiy Ahmed, der der Bevölkerungsmehrheit der Oromo angehört, hatten in letzter Zeit wieder zugenommen. Die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) war die dominante Partei in der früheren Parteienkoalition, die Äthiopien mehr als 25 Jahre lang mit harter Hand regierte. Doch als Abiy Ahmed 2018 an die Macht kam entfernte er im Zuge von Reformen viele Funktionäre der alten Garde und gründete eine neue Partei ohne die TPLF. Die TPLF und viele Menschen in Tigray fühlten sich von der Zentralregierung seither nicht vertreten und wünschten sich seither größere Autonomie. Äthiopien präsentiert sich gerne als eine der ältesten Nationen von Afrika und pflegt mit Stolz seine glorreiche Vergangenheit. Aber seine jetzigen Grenzen sind sehr jung. Die separatistischen Bewegungen, die lange unter der Monarchie - zuletzt unter Haile Selassie (1930–1974)  - und dann während der kommunistischen Militärdiktatur unterdrückt worden sind, finden nun mit Hilfe von demokratischeren Institutionen ein Ventil. Die Ergebnisse der nächsten Parlamentswahlen werden entscheidend für die Zukunft des Landes sein, zumal mit der Unabhängigkeit Eritreas (1993) und des Südsudans (2011) das Prinzip der Unverletzlichkeit der afrikanischen Grenzen in Frage gestellt wurde.[2]

Wegen der anhaltenden Corona-Pandemie wurde die Parlamentswahl aber schließlich auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben. Gegen den Willen der Zentralregierung in Addis Abeba hielt die Regionalregierung der im Norden des Landes gelegenen Tigray-Provinz dennoch im September Wahlen ab, die vom Bundesparlament im Vorfeld bereits für „ungültig“ erklärt wurden. Dagegen bezeichnete Tigrays Provinzregierung jeden Versuch, die Wahlen zu verhindern, als „Kriegserklärung“. Im November 2020 ließ Abiy die äthiopischen Streitkräfte nach Tigray einmarschieren. Seither ist der Konflikt eskaliert.

Ende Juni 2021 erobern die Rebellen die Hauptstadt Mekele der äthiopischen Konfliktregion Tigray wieder von den Regierungstruppen zurück. Nach schweren Gefechten musste sich die äthiopische Armee zurückziehen. Im November 2021 rücken die Rebellen immer näher an die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba vor. Aufgerüstete Streitkräfte Abiys stoppen den Vormarsch der Rebellen und drängen diese zurück.

Neun äthiopische Oppositionsfraktionen unterzeichnen in Washington zudem ein Bündnis gegen Abiys Regierung. Man wolle den Ministerpräsidenten durch „Verhandlungen oder mit Gewalt“ dazu bringen, eine Übergangsregierung zu bilden, heißt es. Die Lage bleibt unübersichtlich.


Mit der Amtsübernahme von Abiy Ahmed als neuen äthiopischen Ministerpräsidenten im April 2018 schienen die Hoffnungen der Menschen in Äthiopien auf ihm und seine Politik der Versöhnung mit dem nördlichen Nachbarn Eritrea zu liegen. Dafür erhielt er 2019 den Friedensnobelpreis.

Die in Tigray 2020 angekündigten Regionalwahlen wurden von der äthiopischen Zentralregierung heftig kritisiert und für „ungültig“ erklärt. Sie ließen den lange unter der Oberfläche brodelnden separatistischen Konflikt eskalieren. Während Tigrays Provinzregierung jeden Versuch, die Wahlen zu verhindern, als „Kriegserklärung“ bezeichnete, startete der äthiopische Ministerpräsident Abiy im November 2020 eine Militärintervention gegen die Tigray-Provinz - mit ungeahnten Folgen. Abiy wandelte sich nunmehr „vom Hoffnungsträger zum Kriegsherrn“, dem zunehmend die immer mehr aufbrechenden Spannungen und Konflikte im Vielvölkerstaat Äthiopien aus den Händen zu gleiten schienen. Sein Ziel einer Zentralisierung der Macht auf Kosten des Einflusses der verschiedenen Ethnien im Lande dürfte Äthiopien selbst in den Grundfesten erschüttern. Die Gefahr eines Flächenbrandes, in dem auch die benachbarten Staaten hineingerissen werden könnten, ist nicht auszuschließen.[3] Wegen Äthiopiens strategischer Bedeutung sind auch Nachbarstaaten wie der Sudan, der Südsudan, Eritrea und Somalia betroffen, die selbst mit inneren Verwerfungen zu kämpfen haben.


Die äthiopische Regierung, die die Militäroperation in der Provinz Ende November 2020 für beendet erklärt hatte, unterband bisher den Informationsfluss weitestgehend. Doch nach und nach sickerten die Berichte über die jüngsten vergangenen Geschehnisse in Tigray an die Öffentlichkeit. So sollen schwere Menschenrechtsverletzungen begangen worden sein. Die eritreische Armee kontrolliert weite Teile des an Eritrea grenzenden nördlichen Tigray. Die Eritreer unterstützten die nationale äthiopische Armee bei der Militärkampagne gegen die TPLF (Tigray People’s Liberation Front), die mittlerweile in den Untergrund vertriebene Regierungspartei Tigrays. Eritrea und die TPLF verbindet eine historische Feindschaft. Die Systematik, mit der unter anderem eritreische Soldaten gegen die örtliche Bevölkerung vorgingen, erinnert laut internationalen Beobachtern daran, dass in Tigray ethnische Säuberungen stattgefunden hätten. Dazu zählten willkürliche Exekutionen, die Vergewaltigung von Frauen sowie das Anzünden von Häusern und Feldern mit der Absicht, die Infrastruktur der Menschen vor Ort zu zerstören.

Die äthiopische Zentralregierung wie auch Eritrea wiesen die erhobenen Vorwürfe der internationalen Staatenwelt von sich. 

Äthiopien erklärte Ende November den Sieg über die TPLF, nachdem äthiopische Einheiten die Regionalhauptstadt Mekele besetzen konnten. Viele militärische Anführer der TPLF sind seither im Untergrund tätig und flüchteten in die Berge der Region, von wo sie den politischen und militärischen Widerstand gegen Addis Abeba organisieren. Weitere Kämpfe zwischen den Rebellen und der äthiopischen Armee sind vorprogrammiert. Die äthiopische Luftwaffe hat mittlerweile Ziele gegen mutmaßliche Rebellenstützpunkte in den Bergen im Umland von Tigray ins Visier genommen. Eine weitere militärische Eskalation am Horn von Afrika steht im Raum.

Ende Juni 2021 gelang es den Rebellen, die Hauptstadt Mekele der äthiopischen Konfliktregion Tigray wieder nach heftigen Kämpfen von den Regierungseinheiten zurückzuerobern. Die Armee musste sich zurückziehen. Eine Waffenruhe wurde daraufhin von beiden Konfliktparteien ausgerufen.

Die als marxistisch-leninistische Befreiungsbewegung Anfang der 1970er-Jahre gegründete TPLF war die stärkste Kraft der Parteienkoalition EPRDF, die Äthiopien bis 2019 regierte. Doch dann gründete der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed das Bündnis neu - ohne TPLF. Damit brach der Konflikt um Tigray mit aller Gewalt auf.


Das Horn von Afrika seit jeher im Fokus internationaler Mächte

Internationale Mächte wetteifern um Einfluss und Kontrolle am strategisch wichtigen Horn von Afrika. Somalia hat in den letzten drei Jahrzehnten die Schlagzeilen der internationalen Medienlandschaft beherrscht: Bürgerkrieg, Aufstände, islamische Terrorgruppen und Piraterie füllten und füllen die Titelseiten der Presse. Aber die strategische Lage des Landes am Horn von Afrika hat andere Mächte in diesen gescheiterten Staat angelockt, wobei Luftoperationen ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Der Wettstreit um Zugang und Einfluss am Horn von Afrika verschärft sich, da die Golfstaaten, die Türkei und China darum ringen, Fuß zu fassen. Gleichzeitig prägen die Rivalitäten zwischen Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar und der Türkei die Interaktion dieser Nationen mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren.

Genauer gesagt, hat sich in den letzten fünf Jahren das Kräftemessen zwischen externen Mächten um Einfluss und Zugang zum Horn von Afrika mit einer Reihe von kleineren Luftstreitkräften verschärft, die an Orten eingesetzt wurden, von denen die breite Öffentlichkeit noch nie gehört hat. Dazu zählt Baledogle, etwa 100 km nordwestlich von Somalias Hauptstadt Mogadischu gelegen, das früher der größte sowjetische Luftwaffenstützpunkt entlang der gesamten Küstenlinie des Indischen Ozeans war. Der Stützpunkt war ein wichtiges Luftverteilungszentrum, das mit Amerikas strategischer Einrichtung Diego Garcia konkurrieren sollte. Heute wird die Basis von Langley/Virginia aus betrieben - als eine wichtige US-Einsatzzentrale im Krieg gegen die dschihadistische al-Shabaab-Miliz.

Die Miliz ist sowohl motiviert als auch für afrikanische Verhältnisse recht effizient und wird von CIA-Analysten auf 7.000 bis 10.000 Kämpfer in einer Region geschätzt, die von Äthiopien und dem Sudan im Norden und Kenia im Süden umschlossen wird. Zusammen mit der nigerianischen Terrorgruppe Boko Haram zählen die beiden Terrorbewegungen nach Ansicht britischer und amerikanischer Sicherheitsstrategen zu den effektivsten aufständischen Gruppen auf dem Kontinent. In der Tat spielen somalische Dschihadisten heute eine wichtige Rolle bei mehreren afrikanischen Aufständen. Die prominenteste Rolle spielen sie etwa in Mosambik, obwohl sich der Einfluss der Dschihadisten auch auf Kenia, Uganda, Tansania und die Demokratische Republik Kongo erstreckt. Westliche Geheimdienste betrachten diese Region als extrem volatil.

Die wichtigste westliche Sicherheitseinrichtung in der gesamten Region, die sich über Äthiopien, Somalia, Eritrea und das jemenitische Binnenland erstreckt, ist die US-Drohnen-Basis Chabelley in Dschibuti. Ursprünglich in Dschibuti selbst angesiedelt, wurde sie aus Sicherheitsgründen um ein Dutzend Kilometer in das Wüsteninnere verlegt, eine der rauesten Umgebungen des Planeten. Die dort eingesetzte Drohnen-Einheit ist Teil der USAF 726th und 776th Expeditionary Air Base.

In erster Linie ist in der Großregion auch Frankreich mit seinen Streitkräften vor Ort aktiv, um speziell in der brisanten Sahelzone im Kampf gegen Dschihadisten Präsenz zu zeigen.

Neben China will auch Russland in Afrika wieder mehr Stärke zeigen, so wie es im Falle der UdSSR während des Kalten Krieges vor mehr als 30 Jahren der Fall gewesen war. Nun will Russland wieder einen Marinestützpunkt auf sudanesischem Territorium am Roten Meer eröffnen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig die Gesamtregion rund um das Horn von Afrika im internationalen Kräftewettbewerb ist.


Ende Juni gelang es den Rebellen der Tigray People’s Liberation Front (TPLF), die Hauptstadt der äthiopischen Konfliktregion Tigray, Mekele, von den äthiopischen Regierungstruppen zurückzuerobern, nachdem letztere im vergangenen November dort zwischenzeitlich die Kontrolle übernommen hatten. Nun musste sich die äthiopische Armee wieder nach heftigen Gefechten mit den Rebellen aus der Region zurückziehen.

UNO-Generalsekretär Guterres telefonierte nach Angaben der UNO mit dem äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed. Guterres ließ danach mitteilen, dass er auf ein Ende der Kämpfe hoffe. Die Situation in Tigray sei „äußerst besorgniserregend“.


Abiy Ahmed, der Friedensnobelpreisträger, der ein zunehmend zerrüttetes Äthiopien regiert, gewann am 10. Juli mit seiner Prosperity Party die erste nationale Wahl seit 2015 mit großer Mehrheit. Die Partei des Ministerpräsidenten hatte allerdings keine ernsthafte Konkurrenz auf landesweiter Ebene.[4]

Die äthiopische Zentralregierung verkündete nach dem Abzug ihrer Truppen aus Mekele Ende Juni eine Waffenruhe. Die Rebellen präsentierten daraufhin eine Liste mit mehreren Bedingungen für einen Waffenstillstand. Sie verlangten unter anderem, dass eritreische Truppen und Milizen, die aus der äthiopischen Region Amhara stammten, aus Tigray abziehen müssten.

Bis November 2021 rückten die Rebellen immer näher an die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba heran, um die Regierung und den äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed zu stürzen. Die Regierung ließ in Addis Abeba organisierte Massenkundgebungen zugunsten Abiys abhalten, um die äthiopischen Streitkräfte gegen die anrückenden Rebellen zu unterstützen.

In Washington schlossen unterdessen neun äthiopische Oppositionsfraktionen ein Bündnis gegen Abiys Regierung. Man wolle den Ministerpräsidenten durch „Verhandlungen oder mit Gewalt“ dazu bringen, eine Übergangsregierung zu bilden, hieß es.


Unterdessen intensivierte die äthiopische Zentralregierung ihre militärischen Bemühungen, um die eigenen Truppen aufzurüsten - vor allem auch mit Kampfdrohnen.

Ministerpräsident Abiy unterzeichnete im August 2021 in der Türkei ein Abkommen zur militärischen Kooperation, das den Kauf bewaffneter Drohnen beinhaltete. Auch chinesische und iranische wurden seither gegen die Rebellen zum Einsatz gebracht.

Abiys Regierung hatte neben Drohnen auch weiteres Kriegsgerät angeschafft, um Zehntausende Soldaten zu bewaffnen, die in den vergangenen Monaten im Rahmen einer Massenmobilisierung neu rekrutiert wurden. Über hundert Frachtflüge von den Arabischen Emiraten zur wichtigsten äthiopischen Luftwaffenbasis südlich von Addis Abeba wurden zwischen August und Mitte November 2021 gezählt. Die Transportflugzeuge sollen unter anderem Munition und leichtere Waffen ins Land gebracht haben. Es ist möglich, dass die neuen Kriegsgeräte gerade rechtzeitig verfügbar waren, um den Vormarsch der Rebellen auf Addis Abeba zu stoppen.

Im Äthiopien-Konflikt beendete Ende Dezember 2021 die Zentralregierung nach eigenen Angaben das Vorrücken ihrer Streitkräfte auf die Tigray-Provinz. Das äthiopische Militär wurde angewiesen, die von der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) zurückeroberten Gebiete zu halten, aber nicht weiter vorzurücken. Die jüngste Aktion der Regierung sei damit beendet, auch wenn es noch kleinere Auseinandersetzungen in Grenzregionen gebe. Die TPLF hatte jüngst einen Rückzug aus umkämpften Gebieten des Landes bekanntgegeben und eine Aufnahme von Friedensgesprächen angeboten. Die Zentralregierung in Addis Abeba bezeichnete das Angebot jedoch als taktisches Manöver. Der Vielvölkerstaat Äthiopien im Osten Afrikas mit seinen 115 Millionen Einwohnern droht - durch seit einem Jahr anhaltende Kämpfe - zu zerfallen.


Anfang April 2022 startete die äthiopische Armee eine Offensive gegen die Rebellengruppe Oromo-Befreiungsarmee (OLA). Äthiopien hat die OLA als terroristische Gruppe eingestuft, nachdem sie sich mit der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) verbündete. OLA und TPLF wird vorgeworfen, die äthiopische Zentralregierung von Ministerpräsident Abiy Ahmed destabilisieren zu wollen. Die OLA, eine Splittergruppe der politischen Partei Oromo Liberation Front, fordert mehr Autonomie und Selbstbestimmung für das Volk der Oromo.

Der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed kündigte nach einem Massaker an mehr als 100 Zivilisten in der Region Oromia am 18. Juni 2022 „null Toleranz“ gegenüber den Verantwortlichen an. Er nannte die Tat „Terror“. Die Wiederherstellung von Sicherheit und Frieden habe oberste Priorität für seine Regierung, sagte Abiy, der 2019 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war. Die blutigen Angriffe richteten sich nach Angaben von Augenzeugen vor allem gegen Angehörige der amharischen Volksgruppe. Augenzeugen hatten berichtet, mehr als 100 Menschen seien von den bewaffneten Tätern erschossen worden.


Ein Ende des Bürgerkrieges im Vielvölkerstaat Äthiopien im Osten Afrikas dürfte allerdings auch mittelfristig nicht absehbar sein. Internationale Militärbeobachter glauben nicht, dass die Rebellen in absehbarer Zeit zu bezwingen seien. Die Rebellenorganisation ist eine hoch motivierte Truppe, die von einigen der erfahrensten Militärstrategen in Afrika angeführt wird. In Tigray verfügt sie zudem über den Rückhalt einer Bevölkerung, die glaubt, um ihr Überleben kämpfen zu müssen.


Abgeschlossen: Anfang Juli 2022


Anmerkungen:

[1] Äthiopien - Hintergrund in: Bundeszentrale für politische Bildung-Online v. 21.9.2020: https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/54578/aethiopien/

[2] Siehe dazu: François Lafargue, „ÉTHIOPIE: UN SCRUTIN À HAUT RISQUE“. In: Revue Défense Nationale 10/2020, S. 105-109.

[3] Vgl. Bettina Rühl, „ÄTHIOPIEN VOR DEM ZUSAMMENBRUCH?“. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2021, S. 29-32.

[4] Ethiopia’s ruling party wins national election in landslide. In: AP NEWS-Online v. 10.7.2021: https://apnews.com/article/africa-elections-ethiopia-national-elections-93530a94b4d9b50e6e4e09e577bdbee2

Weiterführende LINKS:

The Conflict in Ethiopia’s Tigray Region: What to Know

Ethiopia’s Tigray crisis: The long, medium, and short story

Why Is Ethiopia at War With Itself?

Experts react: Understanding the conflict in Tigray

Ethiopia: A timeline of the Tigray crisis

What To Know About Ethiopia's Tigray Conflict : NPR

Timeline: Ethiopia's Tigray conflict - Anadolu Agency

Timeline of Ethiopia’s Tigray Conflict and the Disputed Facts

Ethiopia: What We Know About the War in the Tigray Region

Finding a Path to Peace in Ethiopia’s Tigray Region

Trouble in Tigray: Worrying Ripples from Ethiopia’s Latest Conflict

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